Hat der Konstanzer Handel das Zeitalter des Internets verschlafen?
Peter Kolb: Sicher nicht. Konstanz ist nicht besser oder schlechter als das restliche Deutschland. Was versteht man unter dem Zeitalter des Internets? Wir hatten zu Beginn des Internets Pioniere in Konstanz. Wir hatten die ersten Webseiten. Wir hatten eine frühe Kommunikation per Mail. Das Thema Online-Verkauf und die Entwicklung von Online-Plattformen haben wir nicht verschlafen. Diese Formen wurden von Visionären entwickelt und mit hunderten Millionen Dollar zu dem gemacht, was sie heute sind.
Größere Unternehmen sind in der Lage, Online-Shops richtig aufzuziehen. Um es richtig zu machen, sind sehr, sehr viel Geld und Zeit notwendig. Die Wertschöpfung ist gering. Hier haben die Konzerne – Amazon und Co. – die Nase uneinholbar vorne. Die haben Logistik-Konzerne, die Mitarbeiter werden schlechter als die im Handel bezahlt, die Konzerne haben ihre Zentrale nicht in Deutschland, die Gewinne werden dort ausgewiesen, wo man die geringsten Steuern bezahlt. Und diese Konzerne nutzen gratis die Infrastruktur, die wir seit Jahren in Deutschland bezahlen.
Sebastian Raetz: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Je beratungsintensiver die Produkte sind, desto schwieriger wird es, mit einem Onlineshop ausreichend Umsatz zu generieren. Es ist ein Trugschluss, dass man mit 1000 Euro einen Onlineshop aufbauen kann. Je nach Sortimentsvielfalt und Anzahl der Produkte kostet alleine der Aufbau hohe Summen. Außerdem funktioniert der Betrieb eines Onlineshops ja nicht wartungs- und kostenfrei. Dieser muss ständig gepflegt, überarbeitet und erweitert werden. Es gibt Händler, die haben es vielleicht verschlafen und hätten mit wenigen finanziellen Mitteln einen Onlineshop aufbauen können. Bei anderen wiederum stehen die Kosten nicht im Verhältnis zum zu erwartenden Umsatz.

Man muss auch bedenken, dass man in der Stadt seine Mitbewerber kennt. Im Internet sind dies plötzlich Hunderte oder Tausende. Und leider geht es dann häufig nur noch um den Preis. Multi-Channel-Vertrieb hilft aber dem stationären Handel, zukunftsfit zu werden, besonders wenn das Konzept interessant ist und sich abhebt. In den sozialen Medien kann wirklich recht einfach ein Account geschaffen werden. Aber man muss dazu auch etwas Gefühl und Ideen haben. Das kann nicht jeder aus dem Ärmel schütteln, sonst wären wir alle gut bezahlte Influencer. Die Konstanzer Händler haben sicher nicht pauschal das Internet verschlafen.
Ottmar Zwicker: Das kann man so einfach nicht beantworten. Tatsächlich rechen sich die meisten Onlineshops nicht. So sind 44 von 100 neu gegründeten Shops innerhalb eines Jahres wieder offline. Die Mehrzahl aller Onlineshops-Neugründungen erreichen in den ersten zwei Jahren keine durchschnittlichen 1000 Euro Umsatz im Monat, und 99 Prozent aller deutschen Onlineshops teilen sich zehn Prozent vom gesamten deutschen E-Commerce-Umsatzvolumen. Dazu kommen extrem harte Wettbewerbssituation, höhere laufende Kosten als erwartet und sehr hoher Arbeitsaufwand. Zudem müssen die Produkte für einen Webshop geeignet sein. In der Summe wird diese Herausforderung sicherlich unterschätzt.
Ein Online-Engagement ist für einen Händler ein zusätzliches Dienstleistungsmerkmal, das sein stationäres Handeln unterstützt. Die grundsätzliche Entscheidung und der richtige Zeitpunkt, diese Investition zu tätigen, ist nicht einfach. Durch die Pandemie hat sich das Konsumverhalten nachhaltig und dauerhaft verändert. Jeder stationäre Händler wird sich, abgestimmt auf sein Sortiment, mit diesem Thema befassen und überlegen, ob und wie ein digitales Angebot für sein Unternehmen Sinn macht.

Hat der Konstanzer Handel zu lange auf die Laufkundschaft gesetzt?
Sebastian Raetz: Es ist nicht richtig, dass der inhabergeführte Einzelhandel zu lange oder ausschließlich auf Laufkundschaft gesetzt hat. Ein Händler, der es nicht verstanden hat, durch seine Leistung Kunden zu Stammkunden zu machen, hat einen Grundgedanken des Handels nicht verstanden. Dies wird hoffentlich bei wenigen der Konstanzer Händler der Fall sein. Bei vielen Ketten mag dies zutreffen, das muss jeden Tag gepredigt werden, und je größer der Anteil der Laufkundschaft ist, desto geringer ist der Anspruch, diese als Stammkunden zu gewinnen. Dies ist aber zu kurz gedacht. Auf Stammkunden kann man sich verlassen, alles andere ist ein tägliches Glücksspiel. Ein guter Mix aus beidem muss es sein.
Peter Kolb: Ich glaube nicht. Es gibt vermutlich kaum jemanden, der alles kann. Die Kompetenz der Konstanzer Händler ist, dass sie mit ihrem Herzen gerne alle Kunden beraten und diese leidenschaftlich bedienen. Die sozialen Kontakte und der persönliche Bezug sind und bleiben das Wichtigste für jeden Händler, der ein stationäres Geschäfte betreibt. Ich glaube auch, dass der Begriff Laufkundschaft schwierig ist. Jedes Geschäft in Konstanz hat Stammkunden und Gelegenheitskäufer – sind diese Laufkundschaft?
Ottmar Zwicker: Die Frage impliziert einen Trugschluss. Der Konstanzer Einzelhandel hat einen sehr hohen Anteil an Stammkunden aus Konstanz und aus dem Umland. Und selbst Tagestouristen, Urlauber und Besucher der Stadt verbinden ihre Aufenthalte regelmäßig mit einem Einkauf in ihrem Lieblingsgeschäft. Immer wieder betonen sie, was für ein individuelles und abwechslungsreiches Angebot der Konstanzer Einzelhandel bietet und dass sie das in ihrer Heimatstadt nicht (mehr) finden würden. Wir leben nicht vom einmaligen Umsatz, sondern davon, dass unsere Kunden wiederkommen.
Worauf kommt es an?
Sebastian Raetz: Unser Ziel bei Gradmann ist es seit Jahrzehnten, Kunden zu glücklichen und zufriedenen Stammkunden zu machen. Dass dies gelingt, ist der Verdienst unserer tollen Mitarbeiter. Händler und Stammkunden gehen eine Partnerschaft ein. Und in einer Partnerschaft möchte jeder zufrieden und glücklich sein. Natürlich gelingt dies nicht in jedem Fall. Wenn sie 100 Kunden bedienen – da geht auch mal etwas schief. Das ist bedauerlich, aber auch menschlich. Durch ein gutes Beschwerde-Management kann man sogar unzufriedene Kunden wieder für sich gewinnen, und man erhält wichtige Informationen über die eigenen Schwächen. Wenn dann noch ein guter Onlineshop oder ein informativer Social-Media-Kanal dazu kommt, kann man auch als stationärer Händler positiv in die Zukunft schauen. Wichtig ist es, den Kontakt zu den Kunden zu halten und zu pflegen und ständig neue Kunden von der eigenen Leistung zu überzeugen.
Peter Kolb: Ich möchte einen weiteren Aspekt hinzufügen. Der Handel der Zukunft wird mehrgleisig funktionieren. Die Kunden werden sich immer mehr im Internet vorab informieren. Es ist wichtig, dass eine Stadt attraktiv bleibt. In Konstanz gibt es viele hundert Geschäfte mit tausenden verschiedenen Artikel – echte Großstadtauswahl, die sich nicht gegenüber dem Internet verstecken muss. Wir haben Waren zum Anfassen, Probieren, Riechen, Fühlen und gleich Mitnehmen – und das mit einem Lächeln eines Menschen und nicht eines Computers.