Eigentlich lebt er ein ganz normales Leben. Seine große Leidenschaft ist das Fotografieren; vor allem das sogenannte Plane-Spotting, also das Ablichten von Flugzeugen. Er wohnt quasi schon sein gesamtes Leben im selben Haus im Schwarzwald, ist gelernter Maschinenbauer und führt ein mehr oder weniger geregeltes Leben: Manfred, der stinknormale Typ von nebenan.
Doch dann, im Jahr 2019, verändert sich auf einmal alles. Seine Großmutter, die der 61-Jährige zuvor über Jahre, zuletzt sogar in Vollzeit, gepflegt hatte, verstirbt im hohen Alter. Jahre zuvor hatte er bereits seine Mutter verloren. Nachdem die Beerdigung mit zugehörigen Kosten und Aufwendungen abgewickelt ist, kommt die nächste Hiobsbotschaft. Seine Wohnung, die im gleichen Haus wie die seiner verstorbenen Verwandten liegt, wird ihm gekündigt. Die Vermieter haben Eigenbedarf angemeldet.
Wohnungslos von heute auf morgen – ein Alptraum wird wahr
Dann passiert das, von dem wohl keiner glaubt, einmal im Leben damit konfrontiert zu sein. Auch Manfred nicht. Doch von einem Tag auf den anderen sitzt er auf der Straße. Der Mann ist wohnungslos. „Als ich auf der Straße stand, brach die Welt zusammen“, so Manfred. Der SÜDKURIER nennt den Mann nicht nur aus Persönlichkeitsschutzrechten beim Vornamen, sondern auch deshalb, weil es in dem sozialen Milieu von Wohnungslosen selten Nachnamen gibt. Denn dort sind sie nicht wichtig. Dort heißt er Manfred.
„Mit einem Schufa-Eintrag und ohne Arbeit hatte ich keine Chance auf dem Wohnungsmarkt“, sagt er gegenüber dem SÜDKURIER. Im Umkehrschluss bedingen sich diese beiden Umstände auch gegenseitig, weiß er heute. Keine Arbeit, keine Wohnung. Keine Wohnung, keine Arbeit. Eine Spirale, wie Manfred sagt. Eine Spirale, die nur eine Richtung kennt: nach unten.
„Ich habe dann zwei Monate im Auto gelebt“, sagt er. Immer wieder fährt er nach Zürich an den Flughafen, um seinem Hobby nachzugehen. Er lernt viele Menschen kennen, unter ihnen eine Frau, mit der er auch eine Zeit lang in der Schweiz zusammenlebt. Doch ihn zieht es zurück nach Deutschland und er kommt nach Konstanz, wenig später landet er in einer Tagesstätte für Wohnungslose in Radolfzell. „Am Anfang war das der Horror“, so Manfred. Doch er beginnt dort zu arbeiten, jeden Tag sechs Stunden. Die Arbeit gefällt ihm.
Ein halbes Jahr später wechselt er in ein ambulant betreutes Wohnprojekt der AGJ-Wohnungslosenhilfe in Konstanz, wo er zwei Jahre lebt. Bis jetzt. Denn nun zieht der 61-Jährige in eine eigene Wohnung. Möglich gemacht haben das das Immobilienunternehmen Vonovia und die Wohnungslosenhilfe des AGJ-Fachverbands, die künftig gemeinsam gegen Wohnungslosigkeit kämpfen wollen.

Vonovia stellt Wohnraum für wohnungslose Menschen bereit
Wie die Verantwortlichen angeben, habe man sich auf eine langfristige Zusammenarbeit geeinigt. „Vonovia erklärt sich bereit, wo möglich, Wohnraum für wohnungslose Menschen, die durch den AGJ-Fachverband betreut werden, bereitzustellen“, heißt es in einer entsprechenden Pressemitteilung. Vonovia will dabei künftig passende, freie Wohnungen im Raum Konstanz anbieten, die AGJ sucht ihrerseits nach geeigneten Mietern. Manfred ist dabei der erste Wohnungslose im Kreis Konstanz, der vermittelt werden konnte.
Wohnungslosigkeit sei ein deutschlandweites Problem, so Olaf Frei, Pressesprecher von Vonovia. Es gebe schätzungsweise 500.000 Menschen ohne Wohnung im ganzen Land. Manche leben auf der Straße, andere kommen bei Freunden, in Unterkünften oder woanders unter. Als größter Wohnungsgeber – Vonovia besitzt deutschlandweit knapp eine halbe Million Wohnungen – wolle man mithelfen, die Wohnungslosigkeit zu bekämpfen und so „seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden“, so Frei.
In Konstanz besitzt das Unternehmen laut dem Regionalleiter Region Bodensee, Martin Löhle, knapp 500 Mietwohnungen. Davon könne man vielleicht knapp fünf Wohnungen im Jahr anbieten, die passend seien. Das bedeutet: ein bis maximal zwei Zimmer, eine gewisse Größe und ein angemessener Preis. Ansonsten bezahlt das Jobcenter nicht. „Eigener Wohnraum ist eine grundlegende Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben“, ist sich Martin Löhle sicher. Neben der Initiative spendet das Wohnungsunternehmen außerdem 3000 Euro für die Renovierung der AGJ-Tagesstätte am Lutherplatz.
40 bis 50 Wohnungslose kommen in die Konstanzer Tagesstätte
Die Verantwortlichen bei der AGJ freuen sich über die Spende und die neue Zusammenarbeit, schließlich ist die Notlage klar: Jeden Tag kommen laut Jens Mattes, Leiter der AGJ-Tagesstätte, 40 bis 50 Wohnungslose in die Tagesstätte in Konstanz. Die Gründe für die Wohnungslosigkeit seien dabei mannigfaltig: Schulden, Arbeitslosigkeit, Alkohol und Drogen sowie Scheidungen.
Die AGJ hat allerdings nur begrenzt Ressourcen diesen Menschen zu helfen. Die eigenen Wohnprojekte umfassen beispielsweise lediglich ein paar dutzend Plätze und sind immer zeitlich befristet. Wenn es keine Anschlussperspektive gäbe, ständen die Wohnungslosen anschließend nicht selten wieder auf der Straße, so Mattes.
Manfred: „Jetzt geht es Schritt für Schritt wieder aufwärts“
„Es geht darum, Menschen Wohnraum zu vermitteln, die von der Gesellschaft abgeschnitten sind“, so Mattes. „Ohne Wohnungsgeber stehen wir da in einem hoffnungslosen Kampf.“ Dabei sei gerade für Menschen, die ihre Probleme mithilfe der Angebote der AGJ gelöst haben, ein Übergang in einen gesicherten Wohnraum von sehr hoher Bedeutung. Manfred kann sein Glück derweil kaum fassen. Es müsse sich noch setzen, wie er sagt.
Doch Fakt ist: Zum 15. Dezember ist der 61-Jährige nach mehreren Jahren wieder in seine eigenen vier Wände in einem Mehrfamilienhaus in Konstanz eingezogen. „Jetzt geht es Schritt für Schritt wieder aufwärts“, sagt er. Das Bemerkenswerte an seiner Geschichte: Er möchte laut eigenen Angaben eigentlich nichts aus dieser Zeit missen. Vor allem nicht die Zeit, die er am Züricher Flughafen verbracht hat. Im Nachhinein ist er sich sicher: „Die Fotografie war meine Rettung.“