„Welches Leid ist eher zumutbar?“, sinniert Markus Schubert, Leiter der Abteilung Soziale Dienste des Sozial- und Jugendamtes, nachdenklich. Da ist der Mann, dem ein Bein amputiert wurde. Seine Wohnung liegt im fünften Stock. Einen Aufzug gibt es nicht. Nur mit Hilfe anderer kann er aus dem Haus gehen. Er ist eingesperrt in den eigenen vier Wänden, denn andauernd um Hilfe bitten mag er nicht.
Darf eine Personengruppe bevorzugt werden?
Da ist die alleinerziehende Mutter dreier Kinder, die in der Badewanne schläft, weil die Wohnung zu klein ist. Und dann war da neulich die unselige Diskussion im Sozialausschuss, wo einige Gemeinderäte forderten, dass jährlich zwei Wohnungen für Frauen, die im Frauenhaus interimistisch Zuflucht finden, zur Verfügung gestellt werden sollen.
Eine bedürftige Gruppe bevorzugen? Markus Schubert war kurz sprachlos. „Es ist schwierig, Bedürftige zu sortieren“, sagte er. Seine Worte sind deutlich, nachdrücklich, wenn er von den Einzelschicksalen berichtet, die auch ihm nahegehen. Unzählige, persönliche Schicksale, die betroffen machen, und das Sozial- und Jugendamt versucht, die Lebensumstände der Betroffenen zu verbessern.
Ob siebenköpfige Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, leben in einer schimmligen Wohnung oder häusliche Gewalt sind auch in Konstanz alles andere als Ausnahme. „Das ist die Situation in Konstanz. Wir wissen, was da draußen los ist“, sprach er gegenüber den Stadträten Klartext, denn es handelt sich nicht um Einzelfälle. Not und Leid gibt es mannigfaltig in Konstanz, das so wohlhabend scheint.
270 Menschen haben keine Wohnung
„270 Menschen, davon 90 Kinder, sind ordnungsrechtlich untergebracht“, stellt Markus Schubert im SÜDKURIER-Gespräch fest und fügt an: „Das ist eine Hammerzahl!“ Ordnungsrechtlich untergebracht heißt nichts anderes als obdachlos: Sie haben keine eigene Wohnung, sondern sind in städtischen Unterkünften untergebracht. Das können Häuser wie in der Hafenstraße oder im Mühlenweg, Abrisshäuser, die von Privatleuten zur Zwischennutzung zur Verfügung gestellt werden, aber auch Ferienwohnungen sein.
„Die Menschen sind zwar versorgt, aber in unklaren Wohnperspektiven. Sie leben in einer Unsicherheit, denn sie wissen nicht, wie es weitergeht“, so Schubert, der anfügt. „Es gibt Kinder, die in der Schule nicht sagen, wo sie wohnen, weil sie nicht ordentlich untergebracht sind.“ Sie schämten sich dafür und würden nicht mal zu ihrem eigenen Geburtstag Freunde einladen.
Was bedeutet obdachlos?
Beim Begriff „obdachlos“ haben die meisten schon vorgefertigte Bilder im Sinn. Bei einer hohen Anzahl der Betroffenen handle es sich aber mitnichten um „Tippelbrüder“, wie Alfred Kaufmann, Leiter des Sozial- und Jugendamtes, den Personenkreis nennt, von denen es in Konstanz jedoch lediglich „eine Hand voll“ gebe.
Vielmehr handle es sich um Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Wohnung verloren haben. Konstanz sei ein sehr schwieriges Pflaster; bezahlbarer Wohnraum eine Rarität. Und nicht zu vergessen: „Wir haben keinen Einfluss auf die Wohnungsvergabe“, macht der Leiter des Sozial- und Jugendamtes klar. Dafür aber versuchten die Mitarbeiter zumindest als Vermittler den Leuten zu helfen. „Die Vermittlerrolle nehmen wir sehr ernst“, fügt Alfred Kaufmann an. Oberstes Ziel aber sei immer, Wohnungsverlust zu verhindern.
Markus Schubert berichtet anhand vieler Beispiele über die prekären Situationen von Konstanzer Bürgern, wobei er sich immer wieder fragt: „Wie halten die das eigentlich aus?“ Nach einer kurzen Pause erzählt er: „Kind in einer Schimmelbude. Es muss zum Arzt, weil es Asthma und Keuchhusten bekommt.“ Die Wohnungssuche? Eine Katastrophe. „In anderen Kommunen findet man schneller eine Lösung“, sagt Schubert.
Er erzählt von abenteuerlichen Wohnungsgebern, die Bruchbuden zu Wucherpreisen anbieten würden. „Selbsternannte Gutmenschen, die zu uns kommen: Hier, dieses Häuschen könnt ihr haben“, erzählt Schubert. Was es für ein Häuschen war? „Fünf-Zimmer-Haus mit zusätzlich eingezogenen Sperrholzwänden, in dem zwölf Studenten wohnten. 600 Euro für sechs Quadratmeter. Das geht in Konstanz.“ Markus Schubert hat schon viel gesehen an “skurrilsten Wohnungen, wo Leitungen offenliegen und der Putz herunterbröckelt“. Auch dort leben Menschen. Das macht ihn immer wieder sprachlos.
Altersarmut nimmt zu
Darüber hinaus seien Altersarmut und Obdachlosigkeit von Senioren ein Phänomen der letzten Jahre. In Konstanz lebten viele Rentner in unsanierten Wohnungen zu günstigen Mieten. Zunehmend werden Häuser entmietet, kernsaniert und kommen für ein Vielfaches teurer auf den Markt. „Von 300 auf 1.500 Euro. Welcher Rentner kann sich das leisten?“, meint Markus Schubert. „Die Menschen haben ein Leben lang gearbeitet, oft im Billiglohnsektor. Im Alter sollte man doch seinen Lebensabend genießen und nicht in einer Notunterkunft landen.“
Solche Schicksale lösen bei Markus Schubert Betroffenheit aus. Er sagt leise: „So etwas ist tragisch.“ Und doch resigniert er ebenso wenig wie sein Team. Sie versuchen unermüdlich Lösungen zu finden, für jene, die Leid ertragen müssen. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr, denn Not und Leid sind an der Tagesordnung – auch in der Konzilstadt.