Bis zum Sommer 2022 läuft für Yousef Ayash soweit alles gut: Schritt für Schritt verbessert er seine Lebensbedingungen in seiner neuen Heimat. Vor acht Jahren flüchtet Ayash, heute 30 Jahre alt, aus Syrien. Über Umwege kommt er von Ingolstadt schließlich nach Konstanz. Er absolviert die üblichen Sprachkurse und beginnt eine Ausbildung als Elektroniker, die er dieses Jahr abgeschlossen hat. Inzwischen hat er eine Arbeitsstelle in einer Firma in Singen.
Die Probleme reißen trotzdem nicht ab. Der Grund dafür ist sein Bruder, 28 Jahre alt, seit fünf Jahren in Deutschland. Malik hat eine geistige Behinderung und hat die vergangenen fünf Jahre in einem Wohnheim für Behinderte in Cochem bei Koblenz verbracht. Die Schwester der beiden jungen Männer wohne dort in der Nähe, berichtet Yousef Ayash.
Im Sommer veränderte sich alles. Malik wurde in ein anderes Wohnheim verlegt, bekam dort Probleme, wurde in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen, dann entlassen und hatte plötzlich keine Unterkunft mehr. Da sich sonst niemand hätte kümmern können, nahm Yousef Ayash seinen Bruder bei sich in Konstanz auf. „Er ist mein einziger Bruder, ich wollte ihm helfen.“
Zwischen Gutmütigkeit und Zorn
Seither ist im Leben des 30-Jährigen nichts mehr im Lot. Malik sei ein friedlicher Mensch, doch er könne kognitiv nicht mit jeder Situation umgehen, erläutert Ayash. „Wenn er etwas nicht bekommt, das er jetzt gern möchte, kann er schon mal sauer werden.“ Der Zorn des geistig Behinderten richtet sich dann meist gegen den Bruder. Malik sei zudem nicht ausgelastet. Wenn ihm langweilig werde, könne es schon sein, dass er bei den Nachbarn klingele oder er allein auf die Straße laufe.
Zwar ist die Wohnung, in der Yousef Ayash in Konstanz lebt, groß genug für beide junge Männer, doch das Zusammenleben hat sich als sehr schwierig erwiesen. Yousef arbeitet tagsüber, in dieser Zeit hat er keine Kontrolle über seinen Bruder. Dieser sei mehrfach ausgebüxt, habe bei Nachbarn geklingelt oder war irgendwo in Konstanz unterwegs. Die Nachbarn beschwerten sich – zwei alleinstehende Frauen meldeten sich beim Vermieter und sagten, dass sie Angst vor Malik hätten.
Stetiger Kampf mit der Bürokratie
Seither kämpft Yousef Ayash um einen Platz in einer Wohngruppe für behinderte Menschen im Kreis Konstanz für seinen Bruder – und mit der deutschen Bürokratie. Zunächst gelang es ihm, die gesetzliche Betreuung für seinen Bruder selbst übertragen zu bekommen, nachdem die vorherige Betreuerin ihren Dienst niedergelegt hatte. Doch schon bald merkt Ayash, dass dies ihm das Leben nicht erleichtert. Nun ruht die gesamte Verantwortung auf ihm.
Verschiedene Behinderteneinrichtungen hat er kontaktiert und dort Anträge auf Unterbringung für seinen Bruder gestellt – bislang ohne Erfolg. Die Krux liegt dabei im System: „Die meisten Einrichtungen der Eingliederungshilfe haben eine Warteliste, da die Fluktuation in diesem Bereich – anders als etwa in der Altenhilfe – geringer ist“, schreibt Elke Lang, Heimleiterin beim Haus St. Franziskus der Caritas in Konstanz. Es lasse sich nicht voraussagen, wie lange es bis zu einer Aufnahme dauern könne. „Manchmal kann es recht schnell gehen, ein anderes Mal wartet man auch Jahre.“ Das Haus St. Franziskus habe eine Warteliste mit etwa 20 Anfragen.
Andere Einrichtungen bestätigen die Knappheit. Auch außerhalb des Landkreises hat es der 30-Jährige versucht, etwa bei der OWB, einer Behinderteneinrichtung der Stiftung Liebenau in Ravensburg. Dort winkt man ab: Zunächst seien Behindertenwohnheime im Landkreis des nächsten Angehörigen zuständig, also im Landkreis Konstanz, sagt ein Sprecher der OWB. Es gebe zwar einen einklagbaren Rechtsanspruch auf einen Platz, aber das Angebot sei zu knapp. Weiter entfernte Institutionen können die Antragsteller ohnehin nur auf die Warteliste setzen.
Keiner fühlt sich wirklich zuständig
Florian Merkel, ein ehemaliger Nachbar Yousefs aus Dettingen, versteht die Sorgen seines Freundes. „Seinen Bruder habe ich schon öfter erlebt, die beiden waren schon zum Grillen bei mir eingeladen.“ Malik sei meist nett, verstehe ein wenig Deutsch und kommuniziere im Rahmen seiner Möglichkeiten. Doch in bestimmten Situationen verhalte er sich aggressiv, werde wütend wie ein Kind. Dann bekomme vor allem sein Bruder die heftigen Reaktionen zu spüren. Florian Merkel versucht zu helfen, wo er kann – doch im Bürokratie-Dschungel der Betreuungsbehörden habe auch er wenig Durchblick.
Was Yousef Ayash zur Verzweiflung treibt: Letztlich ist in seinem und seines Bruders Fall niemand zuständig. Oder jeder nur ein bisschen. Auch beim Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau meldete sich Ayash – und wurde zunächst abgewiesen. „Es handelt sich dabei um eine pflegerische oder Betreuungsproblematik und nicht um eine medizinische Behandlungsnotwendigkeit“, schreibt Uwe Herwig, der medizinische Direktor. „Insofern ist es richtig, dass eine psychiatrische Klinik hier nicht primär zuständig ist.“ Er verweist darauf, dass sehr viele pflegende Angehörige vor diesem Problem stünden. Es sei ein akutes gesellschaftliches Problem.
Yousef Ayash geht es mit der Situation nicht gut. Einmal muss er die Polizei rufen, weil sein Bruder nirgends zu finden ist. Er taucht wenig später wieder auf, doch auch die Polizei kann nicht weiter helfen. Vor Kurzem geht Malik Ayash mal wieder grob gegen seinen älteren Bruder vor und läuft auf die Straße. Yousef ruft wieder die Polizei – und dieses Mal nimmt sie den 28-Jährigen mit, weil erkennbar ist, dass der betreuende Bruder nicht mehr kann: Er braucht dringend eine Pause.
Für ein paar Tage wird Malik im ZfP Reichenau untergebracht. Doch dort kann er nicht bleiben, eine psychiatrische Einrichtung ist nicht zuständig. Es gebe eine Wohngruppe in Zwiefalten, doch es sei völlig unsicher, ob Malik dort bleiben kann. Yousef befürchtet, dass sein Bruder demnächst wieder bei ihm wohnt.
„Ich bin überlastet – ich brauche Hilfe“
Yousef Ayash hat zum ersten Mal seit Langem Angst vor der Zukunft. Angst, seinen Job zu verlieren, weil er sich schon jetzt schlecht konzentrieren könne. Angst, keine Wohnung mehr zu finden. Angst, die Dinge nicht mehr im Griff zu haben. Er hat es aus Syrien nach Deutschland geschafft. Er hat sich integriert. Jetzt weiß er nicht mehr weiter.
Ein bisschen Hoffnung bleibt. Dass jemand helfen kann und will. Dass sich doch ein Betreuungsplatz für seinen Bruder findet. „Deutschland ist überlastet, das verstehe ich schon“, sagt Yousef dann noch. „Aber es ist ein Land und ich bin ein Mensch. Ich bin überlastet – ich brauche Hilfe.“