Anatolii Chynko sitzt mit seiner Familie auf dem Balkon seiner Wohnung. Gerade war sein B2-Zertifikat in der Post und damit der Nachweis, dass er die Sprachkenntnisse hat, um eine Arbeit aufzunehmen. Überhaupt ist die Familie Chynko zufrieden mit ihrem Leben. Seit gut zwei Jahren lebt sie in Konstanz, Vladlena Chynko floh mit Tochter und Sohn am ersten Kriegstag im Jahr 2022 aus Charkiw. In Konstanz kamen die drei Familienmitglieder erstmal bei Tanja, Anatoliis Schwester, unter, die seit vielen Jahren in Konstanz lebt.
Das war ein gutes Provisorium, schmunzeln sie alle, aber auf Dauer war das Leben zu viert und, als Anatolii Chynko nachkam, zu fünft in einer Zweizimmerwohnung zu eng. Vladlena Chynko versuchte, eine Wohnung zu finden. Schließlich der Anruf aus der Organisation Raumteiler: Es gebe eine Wohnung, die Familie müsse Formalitäten erledigen und die Vermieter kennenlernen.
Der Raumteiler ist eines der Bestandteile, mit dem sich der Krisenstab Flucht (zuvor: Krisenstab Ukraine) befasst, der innerhalb der Konstanzer Stadtverwaltung nach Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 gegründet wurde. Was ist aus den damals begonnenen Aktivitäten geworden? Und welche Rahmenbedingungen haben sich inzwischen geändert?
Die Idee des Konstanzer Pilotprojekts ist in Baden-Württemberg in anderen Kommunen nachgeahmt worden. Die Initiative ging von einem Verein, der sich in der Flüchtlingskrise 2015/16 gebildet hatte, aus, und der sich vornahm, die Flüchtlinge direkt bei Konstanzer Bürgern unterzubringen. Nicht anonym und per Mietvertrag, sondern durch den Kontakt zwischen Vermieter und Mieter, ein System, das die Integration der Neuankömmlinge fördert.
Plötzlich war wieder Wohnraum da
Nach Beginn des Ukraine-Kriegs, als in rascher Folge Hunderte Familien aus der Ukraine nach Deutschland flohen, war diese Form der Suche nach Wohnraum bei den Bürgern Gold wert. Die Stadtverwaltung schuf eine Stelle für die Vermittlung der Wohnungen. Gleichzeitig war die Hilfsbereitschaft der Konstanzer angesichts des Krieges groß und viele gaben ihre Einliegerwohnungen her, damit Ukrainer dort unterkommen konnten. Bettina Parschat, Leiterin des Bürgeramts, formuliert es so: „Der Wohnungsmarkt war dicht – und plötzlich war doch noch Wohnraum da.“
Ein Beispiel dafür ist das Ehepaar Günter, das in Balingen wohnt, aber eine Ferienwohnung in Wallhausen besitzt. Da Anne Günter wegen einer Operation die Wohnung nicht mehr nutzen kann, entscheidet sich das Paar, sie an eine ukrainische Familie zu vermieten.Familie Chynko und die Günters pflegen seither regen Kontakt. „Als wir eingezogen sind, zeigten uns die Günters die Möbel und sagten, dass wir sie nutzen dürften“, sagt Anatolii Chynko. Bis heute sind er und seine Frau von der Großzügigkeit begeistert und schätzen den Austausch mit ihren Vermietern. „Wir haben viel von ihnen gelernt“, sagt Vladlena Chynko.
Wohin nach den Gemeinschaftsunterkünften?
Die Frage, wo geflüchtete Menschen wohnen können, sobald sie aus Gemeinschaftsunterkünften ausziehen, ist auch aktuell drängend. Bettina Parschat freut sich zwar, dass so viele Menschen übers „selbstversorgte Wohnen“ unterkamen, aber ihr ist klar, dass eine Grenze erreicht ist. „Wir bekommen immer weniger Angebote.“ Aktuell kämen zwar weniger Asylbewerber, aber „in der zweiten Jahreshälfte 2024 wird unser Soll wohl um 200 bis 250 Personen steigen.“ Die Stadt werde noch im August das Gebäude in der Max-Stromeyer-Straße 57 als Unterkunft in Betrieb nehmen. Dort können 120 Personen untergebracht werden. Die Stadt muss weiter aktiv nach Unterkünften suchen.
Interkulturelles Netzwerk
Seit Beginn des Ukraine-Krieges hat sich auch das Hilfesystem für Flüchtlinge vergrößert. Neben den etablierten Vereinen wie Save me und Café mondial, die im Zuge der ersten Flüchtlingskrise seit 2015/16 entstanden, kamen neu die Ukraine-Hilfe und Konstanz hilft hinzu.
Bürgermeister Andreas Osner betont, dass es auch gelungen sei, einen Dachverband der migrantischen Vereine in Konstanz zu bilden. Das interkulturelle Netzwerk Konstanz (Inko) koordiniert die Kommunikation zwischen den interkulturellen Vereinen und setzt sich gegen Diskriminierung ein. Im Großen und Ganzen bezeichnet David Tchakoura, Leiter der Stabstelle Konstanz international, die Stimmung in Konstanz als gut, wozu die Vielzahl an Initiativen beitrage. Neiddiskussionen zwischen Asylbewerbern und ukrainischen Geflüchteten gebe es allerdings.
Die Kinderbetreuung ist problematisch
In diesem Bereich liegt die größte Problematik neben der Unterbringung. Kita-Plätze sind sehr knapp, viele Konstanzer Familien warten auf eine geeignete Möglichkeit, ihr Kind unterzubringen. Die Stadtverwaltung bemühe sich um eine transparente Vergabe der Plätze, sagt Alfred Kaufmann, Leiter des Sozial- und Jugendamts.
Plätze für Kinder über drei Jahren werden also nach Alter vergeben, egal, ob es um einheimische oder geflüchtete Kinder geht. „Das größte Problem ist der Fachkräftemangel bei Erzieherinnen“, erläutert Alfred Kaufmann. Eine kleine Milderung ergibt sich durch inzwischen 16 Ukrainerinnen, die als in der Ukraine ausgebildete Fachkräfte in Spielgruppen für ukrainische Kinder arbeiten oder eine Ausbildung zur Erzieherin in Konstanz begonnen haben.
Welche Perspektiven gibt es?
Wie lange der Krieg in der Ukraine noch andauert, ist kaum vorauszusagen. Wie viele von den im Jahr 2022 geflüchteten Ukrainern werde in Konstanz bleiben? Grundsätzlich gilt, dass die Richtlinie des Massenzustroms bis März 2025 verlängert wurde. Bis dahin haben die Ukrainer einen sicheren Aufenthaltstitel. „Wer schon entschieden hat, dass er hierbleiben möchte, sollte in ein anderes Aufenthaltsrecht wechseln“, rät Filip Bebic, Abteilungsleiter in der Ausländerbehörde.

So ist es möglich, eine Ausbildung zu beginnen und darüber einen Aufenthaltstitel zu erlangen oder über die Beschäftigung als gesuchte Fachkraft, etwa als Erzieherin oder Krankenpfleger. Auch Asylbewerber, die wenig Chancen auf eine Anerkennung ihres Asylgesuchs sehen, hätten die Möglichkeit, sich über das Fachkräfteeinwanderungsgesetz einen dauerhaften Aufenthaltstitel zu schaffen. „Die Voraussetzung dafür ist aber, dass sie ihr Asylverfahren selbstverantwortlich beenden“, sagt Bebic.
Und wie geht es mit Familie Chynko weiter? Anatolii und Vladlena sind guter Dinge, dass sie ihr Leben in Konstanz weiter stabilisieren können. Anatolii tritt ab September eine Stelle als Verkäufer einer Modemarke in der Innenstadt an, Vladlena wird an der Rezeption einer Arztpraxis tätig sein, beide wollen zusätzlich selbstständig in der Unterhaltungsbranche tätig werden. Die Kinder besuchen das Gymnasium. Es scheint, als hätte sich ihr Konstanzer Leben in feste Bahnen gefügt.