„Wir haben ein lautes Geräusch gehört. Ich bin gleich nach draußen in den Hof gelaufen – und hörte dort nichts. Ich ging wieder in unser Haus und frage meinen Mann, ob wir den Hofeingang schließen sollen. Er meint: ‚Ach nein, brauchst du nicht.‘ Danach erinnere ich mich an nichts mehr.“ Das sind Natalya Voronas Eindrücke vom 24. Februar 2022.

Das Haus, von dem die Rede ist, steht – oder stand – im Dorf Kostorizewe in der Nähe von Cherson im Süden der Ukraine. Inzwischen lebt Natalya Vorona in einem engen Zimmer in der Konstanzer Luisenstraße zusammen mit ihrer Tochter, 2400 Kilometer entfernt von ihrem Heimatdorf. Auf der Herdplatte kocht der Tee, in dem kleinen Raum sind zwei Betten untergebracht. „Manchmal ist es nicht ganz einfach, die Generationen haben unterschiedliche Bedürfnisse, aber wir kommen schon klar“, sagt Natalya Vorona.

Plötzlich erreicht Elena ihre Eltern nicht mehr

Ihre Tochter Elena nimmt den Faden des Berichts vom 24. Februar 2022, des ersten Tags des Angriffs Russlands auf die Ukraine, wieder auf. „Wir hatten den Tag über mehrmals telefoniert“, sagt sie, schließlich hatte der Kriegsbeginn alle überrascht, im wenig entfernten Cherson sorgte sich Elena Vorona um ihre Eltern. „Abends hat niemand mehr das Telefon abgenommen.“ Da ahnt die Tochter bereits, dass etwas nicht stimmt.

Einmal erreicht sie ihre Mutter doch noch, sie habe aber nur gesagt, dass ihr kalt und es um sie herum nass sei. Wenig später erreicht der Nachbar der Eltern Elena Voronas Bruder und berichtet vom Einschlag eines Geschosses direkt ins Haus ihrer Eltern. Da wird die schreckliche Ahnung Gewissheit: Das Geschoss hat Natalya Voronas Mann getroffen und getötet, Natalya selbst ist schwer verletzt. Immerhin kommt ein Rettungswagen in das Dorf und bringt die Verletzte in ein nahegelegenes Krankenhaus, allerdings nicht nach Cherson.

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„Auf der Brücke Richtung Cherson fanden permanent Kämpfe statt, ich hatte keine Chance, zu meiner Mutter durchzukommen“, sagt Elena Vorona. Erst zwei Wochen später bekommt sie Gelegenheit, ihre Mutter zu besuchen. Ein Bekannter habe sich bereit erklärt, sie dorthin zu fahren. „Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich jemanden fand, der mich mitnahm. Und die Fahrt war die Hölle. An einem Grenzposten bangten wir um unser Leben“, erinnert sich Elena Vorona.

Der Besuch bei ihrer schwer verletzten Mutter hat eine verstörende Wirkung auf die 32-Jährige. Der rechte Arm, die Schulter von Natalya Vorona sind verletzt, ihr Kiefer gebrochen und verschoben, eine Wunde am Bein. „Ich habe meine Mutter nicht einmal erkannt. Die Frau, die ich eine Woche vor Kriegsbeginn gesehen hatte und die, die im Krankenhaus lag, das waren zwei verschiedene Personen.“

Trauer um den Vater, Sorge um die Mutter

Für die Tochter kommt in diesem Moment alles zusammen: Kurze Zeit später wird ihre Mutter nach Cherson ins Klinikum verlegt, nur langsam dringt zu ihr durch, dass sie ihren Mann verloren hat. Elena Vorona trauert um ihren Vater und ist voller Sorge um die Mutter. „Ich konnte nicht einmal zur Beerdigung meines Vaters“, sagt Elena Vorona und da kommen ihr im Gespräch die Tränen.

Nach einiger Zeit wird Natalya Vorona in Cherson ambulant weiter behandelt und wartet darauf, dass die Klinik ihr Bescheid gibt, um ihren Kiefer mit einem Implantat zu stabilisieren. „Irgendwann war mir aber klar, dass wir nicht weiter warten können“, berichtet die 32-Jährige. Die militärische Lage wendet sich nicht zum Guten, die Versorgung in der Stadt ist zweifelhaft, alle ihre Freunde haben die Stadt längst verlassen. „Am 10. Mai 2022 sind wir dann herausgefahren.“

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Über Polen, wo Natalya Vorona, der es auf der Flucht nicht gut geht, mit Medikamenten versorgt wird, fliehen die beiden Frauen nach Italien. Dort hat Elena Vorona in Windeseile übers Internet einen Job in einem Hotel auf Sardinien gefunden. Eine Weile kommen sie damit über die Runden, doch nach dem Sommer endet die Anstellung. „Ich habe gemerkt, dass ich uns beide nicht durchbringen kann ohne Sprachkenntnisse“, sagt Elena Vorona.

Von Italien geht es weiter nach Deutschland

Über Freundinnen hört sie, dass die Lage für ukrainische Flüchtlinge in Deutschland leichter ist. Die Frauen nehmen einen Flug nach München und werden mit einem Bus weiter nach Konstanz geschickt. In Konstanz versuchen sie sich einzuleben, das gelingt auch ganz gut, Elena Vorona hat den Basis-Sprachkurs bereits. „Wir haben hier viel Glück gehabt“, sagt sie, „überall haben wir Hilfe bekommen.“ Einen großen Teil dazu trägt die Praxis für Kieferchirurgie Palm und Roser bei. Der Hausarzt schickt Mutter Natalya dorthin, weil sie seit ihrer Kriegsverletzung Schwierigkeiten und Schmerzen beim Kauen hat.

„Durch die Detonation hatte sie am Kiefer erhebliche Weichteilverluste, Haut und Gewebe waren zerfetzt worden. Der Unterkieferknochen war in mehrere Teile zerbrochen“, beschreibt Kieferchirurg Martin Roser die Diagnose. Roser ist klar: So kann man Natalya Voronas Gesicht nicht lassen. „Eine solche Wunde hat ein Zeitfenster von vier bis sechs Wochen, dann verheilt sie in Fehlstellung“, erklärt Roser.

„Durch die Detonation hatte sie am Kiefer erhebliche Weichteilverluste, Haut und Gewebe waren zerfetzt worden. Der ...
„Durch die Detonation hatte sie am Kiefer erhebliche Weichteilverluste, Haut und Gewebe waren zerfetzt worden. Der Unterkieferknochen war in mehrere Teile zerbrochen“, erläutert Kieferchirurg Martin Roser. | Bild: Hanser, Oliver

Genau das sei bei Natalya Vorona passiert, in der Ukraine seien offenbar die benötigten Titanplatten für die kosmetische Operation nicht vorrätig. Schließlich holt er bei Vorona das nach, was nach der Verletzung hätte gemacht werden müssen: Die Wunde wird im Frühjahr 2023 von außen aufgemacht, der Kiefer freigelegt, die Knochen werden in Position gebracht und mit einer Titanplatte stabilisiert. Allein diese OP bringt ein großes Stück Lebensqualität zurück.

Doch ganz zufrieden ist Roser noch nicht. Die 63-Jährige hat bei dem Angriff alle Backenzähne auf der rechten Seite verloren. Ein Kostenvoranschlag eines Zahnarztes zeigt: Diesen Betrag kann sich die Ukrainerin nicht leisten. Der Kieferchirurg und sein Kollege Frank Palm planen zu diesem Zeitpunkt eine Geburtstagsfeier, die die beiden mit einem sozialen Projekt verbinden wollen. Anstelle von Geschenken wünschen sie sich Spenden von ihren Gästen. Spontan entscheiden sie sich, die Zahnimplantate für Natalya Vorona über die gesammelten Spenden zu finanzieren. Ab März bis Mai plant der Kieferchirurg, seiner Patientin die neuen Zähne einzusetzen.

„Dass Papa nicht mehr da ist, ist das Schlimmste“

Wie geht es für die beiden Frauen weiter? Natalya Vorona besucht einen Sprachkurs und ihre Tochter versucht, ihre Sprachkenntnisse weiter zu verbessern, um bald eine Arbeit zu finden. Sie ist Erzieherin, ihre Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt stehen deshalb gut. Trotzdem geht es beiden nur mäßig. „Unser psychischer Zustand ist nicht richtig gut“, so drückt Elena es aus. „Die Erinnerungen bleiben und manchmal ist es so, als sei das alles erst gestern passiert.“

Die junge Frau macht eine Pause, denkt nach. „Dass Papa nicht mehr da ist, ist das Schlimmste. Die Vergangenheit sorgt uns – und die Zukunft auch.“ Irgendwann zurückkehren oder bleiben? Nicht einmal darüber können sie entscheiden? Ihre Mutter möchte gern zurück in die Ukraine, „aber besser ist es hier“, fasst Elena Vorona das Dilemma zusammen. Glücklich werden in einem noch fremden, wenn auch wohlwollenden Land – vielleicht ist das die schwierigste Aufgabe.

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