Edith Schweizer kramt in der Plastiktasche, die sie zum Treffen mit dem SÜDKURIER mitgebracht hat. Und schließlich holt die 89-Jährige es hervor: Das Stück Maschendrahtgeflecht, das sie vor rund 15 Jahren aus dem Zaun auf Klein Venedig schnitt, der jahrzehntelang Kreuzlingen und Konstanz voneinander trennte.

Am 16. August 2006 wurde er abmontiert. „Das war schon etwas Besonderes“, sagt Edith Schweizer, während sie das Stück Zaun sorgsam vor sich auf dem Tisch im Kafi Bergli in Bottighofen ausbreitet.

Der „Judenzaun“ von 1939
Das erste Stück des Grenzzauns zwischen Kreuzlingen und Konstanz wurde 1939 auf Veranlassung der Schweizer Regierung errichtet. Er trug eine Stacheldrahtkrone und zog sich vom Seeufer bis zur Zollstelle Kreuzlinger Tor. Durch ihn sollten illegale Grenzübertritte verhindert werden.
Dies betraf vor allem Jüdinnen und Juden, die sich vor dem nationalsozialistischen Regime in die Schweiz retten wollten. Deshalb wurde der 2,5 Meter hohe Zaun im Volksmund auch bald „Judenzaun“ genannt. Kurze Zeit nach Errichtung des Schweizer Grenzzauns ließen im Winter 1939/40 auch die deutschen Behörden einen Zaun bauen, der sich vom Seerhein bis zum Emmishofer Zoll zog.
Während des Zweiten Weltkriegs war die Grenze für viele von den Nationalsozialisten Verfolgte ein unüberwindbares Hindernis. Der Zaun wurde auch dem Hitler-Attentäter Georg Elser zum Verhängnis, als er im November 1939 versuchte, von Konstanz aus in die Schweiz zu fliehen.
Zur gleichen Zeit im fernen Frankfurt
Als Georg Elser am 8. November 1939 von deutschen Grenzbeamten neben dem Zaun in Konstanz verhaftet wird, ist Edith Schweizer, die damals noch Hofmann heißt, sieben Jahre jung und lebt mit ihrer Familie in Frankfurt. Sie kann nicht verstehen, warum ihre Lehrer auf einmal wollen, dass sie Distanz hält zu ihren beiden besten Freundinnen, weil diese jüdisch sind.
In ihrer Geburtsstadt sieht sie während der Novemberpogrome 1938 Synagogen brennen, und die eingeschlagenen Fensterscheiben der Geschäfte jüdischer Besitzer. Darunter ist auch der Wäsche-Laden, in dem ihr Vater gearbeitet hatte. Erst nach dem Krieg wird er ihr erzählen, dass er seinem ehemaligen Chef und dessen Familie Anfang 1938 zur Flucht verholfen hat.
1943 wird Edith Schweizer mit ihrer Mutter und Schwester aufs Land evakuiert und erlebt dort das Kriegsende. Wieder zurück in Frankfurt absolviert sie eine Gärtnerinnenlehre. Ende der 1940er Jahre kommt sie erstmals in die Schweiz. Da sie unter Allergien leidet, verschreibt ihr ein Arzt eine Luftveränderung. Während drei Monaten lebt und arbeitet sie in einer Gärtnerei im thurgauischen Tägerwilen – unweit des Grenzzauns zu Konstanz.
Edith Schweizers Schritt über die Grenze
1955 zieht Edith Schweizer schließlich ganz in den Thurgau, nachdem sie einen der beiden Söhne der Gärtnereibesitzer aus Tägerwilen geheiratet hat. Sie wird Schweizerin und zieht fortan oft um, denn ihr Mann arbeitet für die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB).
Ab den 1970er Jahren lebt Edith Schweizer in Kreuzlingen. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie begonnen, für die damalige Mittelthurgaubahn zu arbeiten. In diesem Jahrzehnt wird auf dem durch Aufschüttung entstandenen Gebiet Klein Venedig ein neuer Zaun errichtet, der Kreuzlingen und Konstanz voneinander trennt. Entlang der restlichen Grenze steht nach wie vor ebenfalls ein Zaun, der aber an den meisten Orten keine Stacheldrahtkrone mehr trägt.

Oft geht Edith Schweizer über die Grenze, denn ihre Mutter ist von Frankfurt aus nach Konstanz gezogen, um nach dem Tod des Vaters in der Nähe ihrer Tochter zu sein. In den 1980er Jahren zieht Edith Schweizer in das Hochhaus an der Ecke Hauptstrasse/Freiestrasse in Kreuzlingen. Noch heute, über 30 Jahre später, schwärmt die inzwischen 89-Jährige vom Blick, den sie damals von ihrer Wohnung aus hatte – auf und über die Grenze.
Als Wiesenstraße und Seeuferweg oft unpassierbar waren
„Das war einfach normal: Man ist an den Emmishofer Zoll, hat den Pass gezeigt und ist rüber“, antwortet Edith Schweizer auf die Frage, wie das damals war, das Leben im Grenzgebiet. Oft habe sie sich aber gar nicht ausweisen müssen, denn mit der Zeit hätten sie die meisten Zöllner gekannt.
Erst nach der Grenzöffnung seien ihr die Umwege bewusst geworden, die sie jeweils gemacht hat, weil etwa die Wiesenstraße am Grenzzaun endete.

Und Edith Schweizer erinnert sich auch noch gut an die Zeit, als das Tor im Zaun auf Klein Venedig in der Regel nur an den Wochenenden für Spaziergänger entlang des Uferwegs geöffnet war. Ruhiger sei die Zeit damals gewesen, sagt die 89-Jährige.
Sie muss lachen, als ihr die „Nudelsonntage“ in den Sinn kommen. So wurden die Tage genannt, wenn in Deutschland ein Feiertag war, und viele Konstanzer die Grenze passierten, um dort Nudeln oder Tabakwaren einzukaufen, etwa in der sogenannten Schwabenmigros.

Der Zaunfall auf Klein Venedig im August 2006
Doch auch wenn Edith Schweizer betont, dass sie persönlich nie ein Problem mit der Grenze und dem Zaun hatte, war sie am 16. August 2006 mit dabei, als der Zaun auf Klein Venedig fiel. In einer feierlichen Zeremonie schnitten der damalige Konstanzer Oberbürgermeister Horst Frank und sein Kreuzlinger Amtskollege Josef Bieri gemeinsam das erste Stück aus dem Zaun.

Bereits zuvor war die Grenze zwischen Kreuzlingen und Konstanz durchlässiger geworden: Ende September 1999 waren rund 800 Meter Maschendrahtzaun entlang des Grenzbachs entfernt worden. In der Wiesenstraße und im Paradies fielen die Zäune erst später beziehungsweise wurden am Saubach auf Gartenzaunhöhe gestutzt.
Gegen einen Abbau des Zauns hatten sich lange Zeit vor allem die Grenzschutz- und Zollbehörden gestellt. Auf der anderen Seite hatte sich neben einigen Lokalpolitikern vor allem der deutsch-schweizerische Rotary-Club seit den 1980er-Jahren für einen Abbau des Zauns stark gemacht.
„Es war so ein schöner warmer Tag wie heute“, erinnert sich Edith Schweizer an den 16. August 2006, als der SÜDKURIER sie in Bottighofen besucht, wo sie seit rund drei Jahren wohnt. Und an diesem warmen Tag schoss SÜDKURIER-Fotograf Oliver Hanser ein Foto von Edith Schweizer.

Es wurde später für den Artikel zur Grenzöffnung im Lokalteil der Zeitung genutzt. Das Bild zeigt, wie Edith Schweizer gemeinsam mit einer anderen Frau ein Stück Grenzzaun abschneidet. Wie viele andere Konstanzer und Kreuzlinger wollte auch sie sich ein bisschen Maschendraht als Erinnerung sichern.
Der Grenzzaun im Frühjahr 2020: „Dachte, so eine Zeit kommt nie wieder“
Und wie war es dann, als der Zaun auf einmal ganz weg war? „Klar ist es nachher toll gewesen, man konnte einfach hin und her“, sagt Edith Schweizer. Für sie habe es auch ein Stück zusätzliche Freiheit bedeutet, da sie nun keine Umwege mehr gehen musste.
Jedenfalls hätte sie damals nie gedacht, dass noch einmal Zäune Kreuzlingen und Konstanz voneinander trennen würden. Und diese auch noch über Monate hinweg für viele fast gänzlich unpassierbar sein würden. Doch dann kam der März 2020 und mit ihm die coronabedingten Grenzschließungen.
„Man hat es ja begriffen, dass dies wegen des Virus notwendig ist“, betont Edith Schweizer. Dennoch war es für die 89-Jährige ein Schock, als auf Klein Venedig auf einmal wieder Zäune standen. „Ich dachte, so etwas erlebe ich nicht mehr. Dachte, so eine Zeit kommt nie wieder.“ Umso glücklicher sei sie gewesen, als die Zäune und Absperrungen im Mai vergangenen Jahres wieder verschwanden. Denn nach wie vor fährt Edith Schweizer fast täglich mit dem Bus nach Kreuzlingen oder Konstanz.
Quellen: SÜDKURIER-Archiv, Schautafeln der Ausstellung „An die Grenze kommen“ am Grenzübergang Kreuzlinger Tor (Texte: David Bruder, Mai 2021)