Als Winfried Kretschmann im Oberklasse-Elektro-Mercedes vor der Christuskirche vorgefahren wird, ist der Lärm fast ohrenbetäubend. Eine Schlagzeuger-Kombo heizt ein, die Trillerpfeifen und Pressluftfanfaren fallen ein. Doch es ist kein fröhliches Fest, es ist die Wut von gut organisierten Demonstranten, die dem Ministerpräsidenten am Freitagabend entgegenschlägt.
Der Regierungschef steigt in aller Ruhe aus dem Auto aus. Und nein, er huscht nicht schnell in die Kirche, um dort, auf überaus freundlichem und vertrautem Terrain, seinen Vortrag zu halten. Es geht in Ruhe auf die Gruppe – die Polizei schätzt sie auf etwa 150 Teilnehmer – zu, schaut sich die Botschaften auf den einheitlich gestalteten Papptafeln an und betritt erst dann die Kirche. So kommt Winfried Kretschmann in Konstanz an.

Im Gotteshaus hebt er nach einer kurzen Begrüßung durch die Gemeinde zu einer Rede an, an die sich die Zuhörer wohl noch lange erinnern werden. Es geht um das Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Für den bekennend-praktizierenden Katholiken und Regierungschef ein Thema, das ihm wichtig ist. Er löst sich schnell vom Manuskript und zeigt an den Aspekten Kultur und Soziales, warum seiner Meinung nach Staat und Kirche einander brauchen, denn „Kirche ist staatstragend im besten Sinne“.

So wird die Rede streckenweise fast zu einer Predigt. Kretschmann äußert Besorgnis, dass die Zahl der Kirchenmitglieder schwindet (soeben sind sie in Deutschland eine Minderheit geworden) und dass er sich Modernität wünscht. Das macht er an einem Satz aus dem ersten Petrusbrief fest: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.“ Diesen einen Satz zerlegt er, ordnet ihn ins Jetzt ein und antwortet am Ende auf eine Frage aus dem Publikum: „Inwiefern das Christentum eine Leitkultur bleibt, das entschieden die Christen selbst, nicht der Staat.“
Kretschmann: Auch Christen können für Waffenlieferungen in die Ukraine sein
Und auch auf die Ukraine geht er ein, erst zu Beginn und dann nochmals auf eine Frage aus dem Publikum. Er sei unbedingt für Waffenlieferungen, und diese stünden auch nicht im Gegensatz zum christlichen Pazifismus. Die Ukraine müsse sich gegen einen völkerrechtswidrigen Angriff auf ihr Volk und alle Regeln des internationalen Miteinanders zur Wehr setzen. Für eine andere Form der Auseinandersetzung scheine Wladimir Putin nicht zugänglich zu sein.
Der Applaus will nicht enden, als Kretschmann zuerst in sein Manuskript zurück- und dann den Abschluss gefunden hat. Pfarrer Jozef Köllner, Gemeindevorstand Hans Detlef Jenß und Moderator Franz Segbers sind sichtlich glücklich über dieses besondere Ereignis zum Jubiläum.

Als Kretschmann die Kirche wieder verlässt, entsinnen sich die Demonstranten wieder des Zweckes ihres Aufmarschs. Hatten sie zuvor gemütlich auf den Stufen vor dem Münster gesessen, machen die vielleicht 30 verbliebenen Aktivisten nochmals großen Lärm. Diesmal geht der Ministerpräsident nicht auf sie zu.
Gegner der Corona-Politik und Impf-Skeptiker hatten ihre Ankündigung also wahr gemacht, Kretschmanns Besuch in Konstanz als Podium zu nutzen. Unter dem Motto „Wer Ja zur Religionsfreiheit sagt, muss auch Ja zur Impffreiheit sagen“ war in den sozialen Netzwerken sowie auf der Plattform Telegram zur Teilnahme aufgerufen worden.
Auf der Markstätte zeigen Kritiker eine Ausstellung
Seit Freitagvormittag wehen ausgedruckte und laminierte Zeitungsartikel im Wind auf der Marktstätte. Die „Galerie des Grauens“, wie er sie selbst bezeichnet, ist ein Werk von Peter Ganz. In den gezeigten Beiträgen werden Impfschäden behandelt. Der Mann hat die Blätter auch schon in anderen Städten Deutschlands gezeigt, stets an prominenter Stelle.
In Konstanz hält Ganz am Nachmittag vor etwa 30 Personen eine Ansprache. Viele Leute auf dem an diesem warmen Sommertag gut gefüllten Platz gehen aber auch desinteressiert oder kopfschüttelnd vorbei. Auch ein paar Schmährufe erreichen die Impfgegner. Kurz herrscht Aufregung, weil jemand versucht haben soll, einen Teil der Galerie umzureißen.

An der Ecke Rosgartenstraße/Bodanstraße haben sich Menschen mit Gesichtsmasken und in Maleranzug in Position gebracht. Insgesamt elf Leute, die sich teilweise abwechseln, sind dabei. Passanten bleiben neugierig stehen, schießen Fotos mit dem Smartphone.
Uwe Jochum, pensionierter Bibliotheksoberrat, der früher an der Uni Konstanz arbeitete, hatte diese Aktion angemeldet. Sie sei „interpretationsoffen“, sagt der Konstanzer, man könne zum Beispiel wegen der Verhüllung der Figuren über das Thema Maskenpflicht nachdenken. Die Organisatoren mussten der Stadt vorher eine Liste mit den Namen der verhüllten Personen vorlegen, die Verhüllten Nummern zur Identifizierung tragen.

Auf dem Münsterplatz sammeln sich derweil Menschen zum Protest. Als Organisator Frank Hinkelmann ein paar Worte spricht, wird nebenan auf der Theaterfreilichtbühne plötzlich die Musik laut gestellt – Soundcheck für das Konzert der Südwestdeutschen Philharmonie am Abend. Hinkelmann bittet später die Verantwortlichen, die Anlage leiser zu drehen, es dauert aber ein paar Minuten, bis sich sein Wunsch erfüllt.

Während an diesem Freitagnachmittag in der alt-katholischen Christuskirche alles für den Besuch Kretschmanns vorbereitet ist, betritt plötzlich ein Mann mit einem Protestplakat das Gebäude. Er wird vom Kirchenvorstand aus dem Gotteshaus hinauskomplimentiert – das sei hier nicht der Ort dafür, das Thema ein anderes.
Knapp 200 Personen – eine Zahl, die auch der Anmelder nennt – bringen sich um etwa 17.45 Uhr vor der Kirche zwischen Münster und Stadttheater in Position. Hier wird kurz vor 18 Uhr der Ministerpräsident erwartet. Trillerpfeifen und die Trommler der Gruppe Pestvögel aus Rottweil sorgen für Getöse. Von stillem Protest kann keine Rede sein.

Die Polizei beobachtet die Lage, kurz bevor Ministerpräsident Winfried Kretschmann eintrifft.
Dann ist Kretschmann da. Zunächst wendet er sich in Richtung der Menge, aus der eine Frau auf ihn zutritt. Die Deutsche, die nach eigenen Angaben in der Schweiz lebt, spricht ihn an, doch dann wendet sich der Ministerpräsident in dem Lärm ab und wird in die Kirche geleitet. „Ich habe ihm gesagt, dass ich Ärztin bin“, erklärt sie später. Ihren Namen nennen möchte sie nicht.
Organisator Hinkelmann ist kein Arzt, sondern Angestellter im Bereich Controlling und deshalb besonders an Zahlen interessiert, wie er sagt. Zahlen und ihre Interpretation hatten ja im Zuge der Corona-Pandemie eine Hauptrolle gespielt.

Er zeigt sich kurz nach 18 Uhr enttäuscht von Kretschmanns Kurzauftritt vor der Kirche, bei dem dieser sich aber auch schwerlich Gehör hätte verschaffen können. Man habe Dialog angeboten, sogar schriftlich im Vorfeld, aber keinen bekommen, so Hinkelmann.