Etwa 300.000 Einwohner zählt die ukrainische Stadt Tscherkassy, die ungefähr 150 Kilometer von der Hauptstadt Kiew entfernt liegt. Dort ist die 18-jährige Polina Ivanova aufgewachsen. Für ihr Marketingstudium an der Nationalen Wadym-Hetman-Wirtschaftsuniversität Kiew ist Ivanova in die Hauptstadt gezogen und wohnte dort bis vor zwei Monaten im Zentrum.
Als die Ukraine am 24. Februar von russischen Truppen angegriffen wurde, suchte Polina Ivanova mit ihrer Familie wie viele andere Hauptstädter Schutz in der U-Bahn. In der Stadt habe Chaos geherrscht, die Straßen seien überfüllt gewesen.
Kurz darauf floh Polina Ivanova mit ihrer Mutter mit dem Zug nach Belgien. Dort verbrachte die Studentin etwa einen Monat, bevor sie schließlich nach Konstanz kam. Ihre Mutter blieb mit einer Freundin in Belgien. Polinas 63-jähriger Vater hingegen weigerte sich, die Ukraine zu verlassen, wo er aufgewachsen ist. „In Tscherkassy hat er sein ganzes Leben verbracht“, sagt Polina, „ich verstehe das.“ Da er älter als 60 sei, müsse er keinen Dienst an der Waffe leisten, er arbeite daher weiter in Tscherkassy. Wegen der Flüchtlingsströme innerhalb des Landes sei die Stadt nun laut Polina Ivanova aber überbevölkert, die Preise hätten stark angezogen.
Familie nimmt sie auf
In Konstanz ist Polina bei der Universitätsmitarbeiterin Gabriele Zander untergekommen. Sie arbeitet als Office Managerin für mehrere Professoren. Polina Ivanova wohnt seit zwei Wochen bei Familie Zander. Die Studentin betont mehrmals, wie dankbar sie für das Zimmer sei. „Als mein Mann und ich nach dem Urlaub die Nachrichten sahen und uns klar war, was in Europa passiert, wussten wir, dass wir Geflüchtete aus der Ukraine bei uns aufnehmen möchten“, sagt Zander.
Die Familie wäre ebenso bereit gewesen, Personen aus Russland bei sich aufzunehmen. „Wir hätten genauso jemanden aus Russland aufgenommen, der aufgrund der aktuellen Situation nicht in sein Land zurückgewollt oder -gekonnt hätte“, sagt Zander. Vor dem Einzug der Ukrainerin hatte Zander mit ihr nur ein paar wenige E-Mails ausgetauscht. Dennoch funktioniere das Zusammenleben sehr gut.
Polinas Geschichte steht beispielhaft für das Schicksal Tausender ukrainischer Studenten, die ihr Land verlassen mussten und ihr Studium nun in einem fremden Land fortsetzen. Zu Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine beschloss die Universität Konstanz, Studenten aufzunehmen und Stipendien wie auch Wohnheimplätze für jene Ukrainer zu verlängern, die schon in Konstanz studierten. Das liege laut Agnieszka Vojta auch an der langjährigen Partnerschaft zwischen den Universitäten in Konstanz und Kiew. Vojta ist Referentin für Mittel- und Osteuropa im International Office der Universität und koordiniert unter anderem Austauschstudenten aus der Ukraine und die Stipendienvergabe.
Zu Beginn des Krieges tauschten sich die Universitäten aus und vermittelten ukrainische Studenten nach Konstanz. Die Stipendien sechs ukrainischer Austauschstudenten, die bereits im Wintersemester in Konstanz studierten, konnten so verlängert werden, dass sie auch das Sommersemester hier verbringen können. Anfang April seien zum Start des Sommersemesters weitere neun Studenten aus Kiew in Konstanz eingetroffen – wenn auch über Umwege, mit Zwischenstationen in anderen Ländern. Insgesamt konnte die Universität Konstanz mit Stand Mitte April knapp 30 ukrainische geflüchtete Studierende aufnehmen.
Männer dürfen Ukraine nicht verlassen
Einige männliche Studenten hatten laut Vojta Probleme mit der Ausreise, in Einzelfällen mussten die jungen Männer sogar auf ein Studium in Konstanz verzichten. Das bestätigt Polina. Im Gespräch erzählt sie vom Freund einer Freundin, der die Ukraine wegen der Wehrpflicht nicht verlassen dürfe.
Die Universität Konstanz und das International Office bemühen sich um einen reibungslosen Studienstart für die ukrainischen Flüchtlinge. Das große Bürokratieaufkommen erschwert diesen allerdings. Polina habe bereits die Einführungsveranstaltungen und die erste Semesterwoche verpasst, sagt sie. Das liegt allerdings auch an ihrer späten Ankunft. Aktuell sei sie dabei, sich für Kurse anzumelden und einen Platz in einem Deutschkurs zu ergattern.
Trotz aller Schwierigkeiten ist Polina dankbar, ihr Studium in Konstanz fortführen zu können. Manchmal habe sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie an die Menschen in der Ukraine denkt. „Man weiß, dass man selbst in Sicherheit ist und andere nicht“, sagt die Studentin. Aus ihrer Sicht ist jede Entscheidung berechtigt. „Die einen entscheiden, zu bleiben und ihr Land zu verteidigen, die anderen, zu gehen und sich in Sicherheit zu bringen. Jede Entscheidung ist in Ordnung.“