„Manchmal werde ich sehr wütend“, sagt Alla Kinchyk. „Ich kann nicht glauben, dass wir hier an einem sicheren Ort leben – und sie sterben dort.“ Die 45-jährige Englischlehrerin ist Mitte März vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen, zusammen mit ihrer 14-jährigen Tochter Daryna und der 20-jährigen Freundin ihres Sohnes, Svitlana Luhanska. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man so grausam sein kann, dass Leute in ihrem eigenen Haus getötet werden. Wofür?“
Seit 21. März leben die drei Frauen im Gäste-Haus Hildegard des Klosters Hegne, zusammen mit einer weiteren Frau aus der Ukraine und deren 14-jährigen Tochter. Zurücklassen musste Alla Kinchyk ihren Ehemann, der sich um ihren alten, pflegebedürftigen Vater kümmere, ihren 21-jährigen Sohn und die Schwester. In Sumy, einer Großstadt im Nordosten der Ukraine, die zeitweise heftig beschossen wurde vom russischen Militär.
Kaum noch Kontakt nach Luhansk möglich
Über das Internet sei sie täglich im Kontakt mit der Familie. Aber die Freundin des Sohnes habe fast keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern. Denn sie komme aus der Stadt Bilovodsk in der Region Luhansk, die von den Russen besetzt sei. Und die Russen würden den Kontakt ins Ausland mit Internet oder Telefon unterbinden. Zudem gebe es dort oft keinen Strom.
Als sie am 24. Februar morgens um 5 Uhr vom russischen Angriff erfuhr, habe sie das zunächst nicht glauben können, sagt Alla Kinchyk. „Ich dachte, es sei ein Fake.“ Doch dann sei sie sehr wütend geworden, habe sogar überlegt, Molotow-Cocktails zu bauen, um damit gegen Panzer zu kämpfen, sei dann ängstlich geworden, habe geweint. Am 8. März hätten die Russen begonnen, ihre Heimatstadt zu beschießen. Es habe oft Alarm gegeben, sie hätten sich im Keller ihres Hauses in Sicherheit bringen müssen.
23 Menschen waren sofort tot
Und dann schildert die 45-Jährige ein furchtbares Erlebnis. Sie sei am Kochen gewesen, habe plötzlich ein seltsames Geräusch gehört und dann durchs Fenster Feuer gesehen. „Die Russen hatten private Häuser bombardiert. 23 Menschen waren sofort tot.“ Und durch den Beschuss in den folgenden Tagen seien noch viele Menschen gestorben – auch Schüler von ihr. Zeitweise habe es kein Wasser und keinen Strom gegeben. Bei Läden habe es lange Schlangen gegeben, aber wenig zu kaufen.
Ihre deutsche Freundin habe ihr jeden Tag gesagt, sie sollten fliehen, berichtet Alla Kinchyk. Aber die Stadt sei von den Russen umzingelt gewesen. Andere Leute hätten in ihren Autos flüchten wollen und sie habe gehört, dass manche dabei getötet worden seien. Sie selbst wollte nicht gehen. Bis dann ihr Mann gesagt habe, es müsse sein, es sei zu gefährlich, sie solle sich um die Tochter kümmern.
„Wir brauchen Waffen“
Am 12. März, als es für kurze Zeit einen Fluchtkorridor gab, habe ihr Mann sie mit dem Auto aus der Stadt gefahren. Und noch im Zug nach Lwiw nahe der polnischen Grenze habe sie nicht glauben wollen, „dass ich es bin, die alles zurückgelassen hat. Es war eine sehr schwierige Entscheidung.“ Ihre deutsche Freundin habe sie an der Grenze abgeholt und nach Allensbach gebracht.
Aktuell sei die Lage in ihrer Heimatregion zwar wieder besser, aber es gebe dort noch oft Alarm. „Niemand weiß, wie es weitergeht“, sagt Alla Kinchyk. „Die Russen schießen Raketen überall hin.“ Dass möglicherweise sogar Atomwaffen eingesetzt werden könnten, mag sie sich gar nicht vorstellen. „Aber alles ist möglich. Schon das, was jetzt passiert, hat sich niemand vorstellen können, all diese Grausamkeiten, die schon begangen worden sind.“ Deshalb finde sie, dass Deutschland, die EU und die USA noch mehr tun sollten. „Wir brauchen Waffen.“
Sie habe keine Ahnung, was Putin letztlich für einen Plan habe. „Putin benimmt sich wie ein unartiges Kind“, sagt die 45-Jährige. Und sie wünsche sich, dass der russische Machthaber und seine Helfer einmal bestraft werden für diese schrecklichen Taten. Wobei sie die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung noch nicht aufgegeben habe. „Ich glaube, wir brauchen einen anderen Weg der Kommunikation mit Putin.“ Und schlimm sei auch, dass selbst Verwandte von ihr in Russland der Lügen-Propaganda geglaubt hätten, dass die Ukrainer selbst schuld seien. Sie hätten Fehler gemacht und Putin bestrafe sie dafür.
Dank der Unterstützung der Hegner Schwestern kann Alla Kinchyk übers Internet noch Schüler aus ihrer Heimat unterrichten, viele sind gleichfalls geflohen. Und ihre Tochter kann hier online am Unterricht in der Heimat teilnehmen. Ab Ende April wolle sie in der Wallgutschule in Konstanz andere geflüchtete ukrainische Kinder unterrichten, erklärt die Englischlehrerin. „Hier ist alles okay.“
Sie sei gut in Kontakt mit anderen Ukrainern in der Region. Demnächst wolle man gemeinsam in der evangelischen Gnadenkirche ein traditionelles Brot backen und Einheimische einladen, so Alla Kinchyk. Aber: „Ich vermisse mein Vaterland, meine Freunde.“ Sie glaube an Gott und bete oft. „Ich hoffe, alles wird wieder okay sein.“
45 Flüchtlinge aus der Ukraine sind derzeit in Allensbach
- Das Kloster Hegne hat neben den fünf Frauen im Haus Hildegard seit Ostern noch zwei weitere junge Frauen aus der Ukraine in seiner Studenten-WG untergebracht, erklärt die dafür zuständige Schwester Susanne Bader von der Provinzleitung. Zudem habe man im Haus Klara eine Etage frei gemacht, hier könnten weitere bis zu 20 Personen unterkommen.
- In Allensbach sind aktuell circa 45 Personen aus der Ukraine untergebracht, erklärt Hauptamtsleiter Stefan Weiss, ein Großteil davon privat. Aktuell gebe es ein ausreichendes Angebot an kurzfristigem Wohnraum, es werde aber mittelfristig noch mal mit einer ähnlichen Zahl an Flüchtlingen gerechnet. Gesucht werde vor allem Wohnraum, der längerfristig angemietet werden könne, so Weiss. Außerdem würden für viele Unterkünfte noch Möbel und Ausstattung benötigt.
- Zahlreiche Menschen hätten sich bei der Gemeinde gemeldet und Unterstützung angeboten, so Weiss. Zudem hätten Vereine und Institutionen zusammen mit der Gemeinde einen Helferkreis gebildet, der zum Beispiel die Sammlung und den Transport von Hilfsgütern organisiere. Die Gemeinde habe zudem ein Spendenkonto eingerichtet: IBAN DE84690514100007100399. Das Geld werde vor Ort zur Unterstützung der Geflüchteten eingesetzt. Außerdem sei eine Betreuungsgruppe für Flüchtlingskinder bis sechs Jahre geplant.
- Ansprechpartner sind der Flüchtlingsbeauftragte der Gemeinde, Jürgen Keck, Telefon (0 75 33) 80 19 49, oder Bürgermeister Stefan Friedrich per E-Mail: bm.friedrich@allensbach.de. (toz)