Auch die ukrainische Stadt Mariupol ist zum Symbol der Grausamkeit des Angriffs der russischen Truppen geworden. Die Stadt ist eingekesselt und belagert, in den Kellern harrt weiter ein Teil der Zivilbevölkerung aus. In dem Asow-Stahlwerk sind nach ukrainischen Angaben weiter bis zu 2000 Zivilisten eingeschlossen.
Lisa Bazun und ihr Freund Mikhailo Havrilov, 25 Jahre, sind vor etwas mehr als zwei Wochen aus der eingekesselten Stadt geflohen und inzwischen in Konstanz angekommen. Die 23-Jährige hatte Konstanz Jahre zuvor besucht. Nun erzählt sie ihre Geschichte in einem Konstanzer Café. Vor ihrer Flucht haben sie und ihre Familie wochenlang die Hölle des Krieges in ihrer Heimatstadt erlebt.
24. Februar: Kriegsbeginn. Mikhailo, genannt Mischa, ist gegen 4.30 Uhr wach und hört entfernte Einschläge. Als er kurz darauf zur Arbeit fährt, sieht er aus dem Bus den Einschlag einer Rakete in ein Benzinlager. Bei der Arbeit kommen ihm Zweifel, ob er zurück nach Hause soll. Er arbeitet weiter. Liza Bazun verlässt das Haus nicht, sie ist an Covid erkrankt. Abends geht Mischa einkaufen, um für Vorräte zu sorgen. Die Preise haben innerhalb dieses Tages um 50 bis 70 Prozent angezogen.
Die Folgetage: Etwa um den 27. März sei der Handyempfang immer schlechter geworden, sagt Lisa Bazun. Sie und Mischa verbringen aus Angst vor Geschosseinschlägen fast den ganzen Tag im Flur ihrer Wohnung, dort ist es am sichersten. Vom Balkon aus beobachtet Mischa, wie das „Haus der Kultur“ getroffen wird und abbrennt. Lisa erreicht ihre Mutter, die wenige Straßen weiter wohnt, nicht. „Wir hörten, wie Fensterscheiben klirrten und zu Bruch gingen. Die Leute plünderten die Läden, das machte uns Angst.“
1./2. März
Das junge Paar beschließt, bei Lisas Mutter nach dem Rechten zu sehen, da es keine Möglichkeit mehr gibt, zu telefonieren. Zum ersten Mal verlassen die beiden ihre Wohnung. „Wir sahen eine völlig zerstörte Stadt, zerbombte Häuser, verwirrte, umherirrende Menschen, Krater in den Straßen“, sagt Mischa.
Sie finden Lisas Mutter und Schwester lebend vor, zweifeln aber nun, ob ein Aufenthalt im Wohnungsflur noch sicher ist. Als sie am nächsten Tag zur eigenen Wohnung zurückkehren, sehen sie, dass ein Projektil den Nachbareingang getroffen hat. „Da wussten wir, dass wir dort nicht mehr sicher sind“, sagt Lisa.
Die beiden packen Dokumente und das Nötigste und ziehen zu Lisas Mutter. Noch am selben Tag beschließt die Familie, in den Keller zu wechseln. Draußen herrscht klirrende Kälte bis minus 15 Grad. Im Keller leben zu diesem Zeitpunkt 80 Menschen.
3. März
Von Seniorinnen, die bei dem Angriff verletzt worden waren und versucht hatten, das Krankenhaus zu erreichen, erfährt Lisas Familie, dass eine Evakuierung geplant ist, es soll einen Fluchtkorridor geben. Früh morgens um 6 Uhr machen sich Lisa, Mikhailo, Lisas Mutter und Lisas neunjährige Schwester auf den Weg Richtung Stadtverwaltung, dem angegebenen Treffpunkt.
„Nastja kann gar nicht schnell laufen“, erläutert Mischa. Ihre Schwester habe eine Entwicklungsverzögerung, ergänzt Lisa. „Wir sind trotzdem durch die Stadt gerannt. Wir haben es nicht geschafft“, sagt der 25-Jährige. Die Familie beschließt umzukehren, die Gefahr, auf offener Straße umzukommen, ist zu groß.
Die Folgetage im Keller
„In dieser Zeit schneite es, wir haben den Schnee geschmolzen, um zu trinken“, sagt Lisa. Wasser, Strom, Heizung gibt es nicht mehr. Die 80 Kellerbewohner bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Sie haben alles Essbare aus den Kühlschränken geholt und legen zusammen, es gibt eine Mahlzeit pro Tag, die Kinder bekommen gelegentlich Süßigkeiten aus dem Lager eines Ladens.
Lisa und ihre Mutter, beide Ärzte, kümmern sich um die Kranken. Krank werden abwechselnd fast alle, man sitzt dicht an dicht, die Belüftung ist schlecht. Die Männer gehen zur Apotheke, die geplündert wurde. Trotzdem sind dort noch Medikamente zu finden.
„Zum Glück gab es Antibiotika“, sagt Lisa. „Wir haben alles gespart, vor allem den Strom in den Akkus der Mobiltelefone“ – für den Fall, dass es Netz gibt, um zu telefonieren. Die Umstände sind schwer erträglich: Als Toilette dienen Eimer, die die Männer regelmäßig draußen leeren. Hände und Körper werden dürftig mit Desinfektionsmittel sauber gemacht.
10. März
Mischa ist dieser Tag besonders im Gedächtnis geblieben. „Ein paar Männer und ich sind morgens nach draußen, um Wasser warm zu machen.“ Plötzlich spürt er die Vibration einer nahen Explosion, hört Schreie. Ein Geschoss habe fünf Personen verletzt.
Jemand ruft ihm zu, dass in der dritten Etage des Nachbarhauses ein Mädchen verwundet sei.
Mischa steigt hinauf, muss drei Scheiben zerschlagen, um die verletzte Jugendliche zu erreichen. Die 14-Jährige hat eine schwere Kopfwunde, Mischa bringt sie nach unten und mit den Männern ins Krankenhaus, ebenso wie die anderen Verwundeten. „Von den fünf Verletzten hat nur eine Person überlebt.“
Auch das 14-jährige Mädchen stirbt noch am selben Tag.
Es gibt auch hoffnungsvolle Geschichten. In einem anderen Nachbarhaus wird ein Mann am Becken verletzt. Lisas Mutter gelingt es, ihn zu retten. „Die Familie hat es uns mit Schokolade gedankt“, erinnert sich Lisa.

19. März
Nachts sei es schlimm gewesen, erinnert sich Lisa. Von Mitternacht bis 8 Uhr morgens habe der Geschosshagel nicht aufgehört. „Es klirrte unentwegt. Da haben wir verstanden, dass wir das nicht überleben.“
Mischa ergänzt: „Ob wir verbrennen, uns ein Geschoss trifft oder wir verhungern – uns war klar, dass wir auf die ein oder andere Art sterben würden. Wir hatten nichts zu verlieren.“
Zwei Tage zuvor hatten sie oben auf dem Dach des Gebäudes zum ersten Mal für 30 Sekunden Empfang gehabt, es gelang, Lisas Vater anzurufen, der wiederum Julia Ichnatkova, die Verwandte in Konstanz, informierte, dass die Familie am Leben sei. Julia bemüht sich von Konstanz aus, die Familie aus Mariupol herauszuholen. Währenddessen fällt in Mariupol die Entscheidung, zu fliehen.

Drei Familien aus dem Keller machen sich auf den Weg. Lisa, Mischa, Lisas Mutter und Schwester schaffen es bis zum ersten Kontrollpunkt, der von russischen Soldaten besetzt ist.
„Wir wussten, dass wir keine Wahl haben“, sagt Lisa. Busse stehen bereit, um die Fliehenden aus der Stadt herauszubringen, sie steigen ein. Bevor Mischa einsteigen darf, wird er durchsucht und befragt, ob er gekämpft habe.
Die Folgetage
Die Flüchtlinge werden in ein Filtrationslager nach Donezk gebracht, das in einer Schule eingerichtet wurde. „Wieder hörten wir täglich Einschläge von Geschossen“, sagt Lisa. 42 Menschen seien vor Ort gewesen, zunächst durften sie das Lager nicht verlassen. Zu Beginn hätten Freiwillige aus Donezk Essen gebracht, dann wurde es weniger. Sie befürchten, eingeschlossen zu sein.
Derweil bemüht sich Julia weiter, ihre Verwandten aus Donezk herauszuholen. Schließlich findet sie Schleuser, die die Familie aus dem Lager in Donezk über die russische Grenze nach Rostow bringen. Von dort geht es weiter nach Burjatschki an die russisch-lettische Grenze.
Neun Stunden hätten sie dort gestanden und gezittert, weil Lisas Mutter und Schwester keine gültigen Reisepässe besaßen. „Sie haben uns dann aber doch über die Grenze gelassen“, sagt Lisa.
Auch Mischa erlebt als einziger Mann bange Stunden. „Ich habe mich auf meine Verwandten in Russland berufen, das hat mich wohl gerettet.“ Von der lettisch-russischen Grenze geht es im Schleuser-Auto nach Warschau, wo die Familie von Julia abgeholt wird.
Nun also Konstanz. Die Stadt, in der Lisa, als sie zu Besuch hier war, unbedingt länger leben wollte. Lisa und Mischa geht es soweit gut, beide wollen arbeiten, es fehlen noch Dokumente – und Sprachkenntnisse. Bei lauten Geräuschen zucke er weiterhin zusammen, sagt Mischa. Ihre Psyche sei noch nicht ganz angekommen, oft glauben sie, noch im Keller zu sein.
Der Artikel beruht auf den Berichten von Lisa Bazun und Mikhailo Havrilov, die auf der Reichenau untergekommen sind. Vieles deckt sich mit Berichten anderer Flüchtlinge, denen es gelang, Mariupol zu verlassen. Eine unabhängige Überprüfung ist nicht möglich.