Während sein kleiner Bruder mit seiner Freundin und der Großmutter auf dem Sofa spielt, versucht Evgeniy am Esstisch dem SÜDKURIER-Reporter das Anliegen seiner Mutter vom Ukrainischen ins Englische zu übersetzen. Von der Wohnung im siebten Stock eines Radolfzeller Wohnblocks geht der Blick ins Grüne. Die Flüchtlingsfamilie hat sie von der Stadt zugeteilt bekommen.
„Ich bin ein bisschen müde, denn es ist nicht meine Sprache“, sagt der 18-Jährige, der als einziger in der Familie Englisch spricht. Jetzt ist er sozusagen Vollzeit-Übersetzer, die ganze Zeit, egal ob bei Behördengängen oder anderen Erledigungen. Evgeniy wurde aufgrund seiner Diabetes-Erkrankung in der Ukraine nicht zum Militärdienst eingezogen.
Mit Hilfskonvoi nach Radolfzell gekommen
Mitte März ist seine Familie mit anderen Flüchtlingen in Radolfzell angekommen. Freiwillige hatten sie in Reisebussen von einem Aufnahmezentrum an der polnisch-ukrainischen Grenze an den Bodensee gefahren, nachdem sie dort Hilfsgüter abgeladen hatten. Der SÜDKURIER hat den Hilfskonvoi damals begleitet.

Mit an Bord war auch der 17-jährige Daniil mit Mutter, Großmutter, Schwägerin und 11-jährigem Neffen. Sie waren aus Saporischschja geflohen. Die südukrainische Großstadt ist in den vergangenen Wochen vor allem als Zufluchtsort für Geflüchtete aus Mariupol und anderen Orten im Südosten des Landes international bekannt geworden.
Zwei Zimmer für fünf Menschen
Die Familie lebt inzwischen zu fünft in einer Zweizimmerwohnung mit Wohnküche, Bad und separatem WC in der Nähe des Radolfzeller Bahnhofs. Daniil schläft im gleichen Zimmer wie seine Mutter. „Das ist nicht so cool“, sagt der 17-Jährige auf Englisch.

Wie Evgeniy ist er der einzige in der Familie, der die Fremdsprache beherrscht. Und seit einigen Wochen lernt er jetzt zusätzlich Deutsch in einem Integrationskurs an der Radolfzeller Berufsschule. „Dort habe ich auch Freunde kennengelernt. Einer ist aus Sri Lanka, einer aus Mazedonien und ein anderer aus Deutschland, den wir in der Pause getroffen haben“, erzählt Daniil.
Wieder vereint mit der Freundin
Evgeniy besucht ebenfalls die Sprachschule, hat dort und beim Fußballspielen neue Freunde gefunden. „Sascha und ich waren vor ein paar Tagen an der Uni Konstanz. Sie haben dort gesagt, wir können studieren, müssen aber besser Deutsch können“, erzählt der 18-Jährige. Sascha ist seine Freundin, die alleine aus ihrer Heimatstadt geflohen und ab Polen im Auto freiwilliger Helfer nach Radolfzell gereist ist.

Nach ihrer Ankunft hat sie ein Zimmer bei einer Frau vermittelt bekommen. Kennengelernt haben sich Sascha und Evgeniy an einer Akademie in ihrer Heimatstadt Slowjansk, wo sie Wirtschaft und Finanzen studiert hätten, erzählt der 18-Jährige. Vor dem Krieg, vor der Flucht wollte er sein eigenes „Business“ gründen – mit Zuckerwatte, das es an den Ausflugszielen seiner Heimatstadt nicht gab. Die Geräte hatte er bereits gekauft. Jetzt lagern sie unter der Erde – in Slowjansk.
Das Wichtigste: einen Job finden
Slowjansk ist eine Großstadt im Oblast Donezk, in dem russische Truppen in den vergangenen Tagen ihre Angriffe verstärkt haben. „In den nächsten Tagen werden die Kämpfe immer näher kommen“, ist sich Evgeniy sicher. Doch derzeit könne er nur hoffen, dass es besser werde, auf Antworten seines Vaters warten, der im Militär dient – „und schauen, was ich hier für meine Familie machen kann.“
Was ihm und seiner Mutter, die laut Evgeniy früher als Chemielaborantin arbeitete, derzeit am wichtigsten ist: einen Job finden. Auch die Mutter will bald einen Deutschkurs beginnen. Und sie habe kürzlich eine Telefonnummer für verschiedene Minijobs erhalten wie Teller spülen oder Gartenpflege, aber es sei leider niemand rangegangen, als sie angerufen hatten.
„Mal sehen, was in Zukunft passiert“
Der 17-jährige Daniil will erst die Schule beenden und dann einen Job suchen. „Oder zum Militär, hier oder in der Ukraine.“ Sein großer Traum jedoch wäre es, Naturfotograf zu werden. „Aber dafür braucht man ein Studium, Biologie.“ Und das sei sehr schwierig, meint der 17-Jährige, bevor seine Mutter in die Küche kommt. Auf ihrem Handy zeigt sie ein Foto von Daniils Vater, erzählt auf Ukrainisch von ihm, während ihr Sohn übersetzt.

Das Bild zeigt den Vater in Uniform. Bis Kriegsausbruch arbeitete er in einer Metallfirma. Jetzt sei er bei einer Fernmeldetruppe im Westen der Ukraine, nahe Lwiw stationiert, erklärt Daniil. „Er ist okay, alles gut“, sagt der 17-Jährige in gebrochenem Deutsch. Wie bereits damals im Bus, auf der Fahrt von Polen nach Radolfzell, holt er sein Handy hervor und zeigt Bilder aus Chatgruppen und von Nachrichtenseiten, die vom Krieg in seiner Heimat zeugen.
Er erzählt von den Kämpfen in Donbass und Mariupol, von den Toten. Will er dorthin zurück? „Weiß ich noch nicht, entweder hier bleiben oder in die Ukraine“, sagt Daniil und lässt seine Handy-App ins Deutsche übersetzen: „Mal sehen, was in Zukunft passiert.“