Georg Lange

Menschen lügen aus vielen Gründen: Aus Höflichkeit, um eine Enttäuschung zu ersparen und aus Angst vor Konflikten oder dem Tragen von Verantwortung. Täglich können so 50 bis 200 Lügen zustande kommen. Der Radolfzeller Verein "Menschen helfen Menschen" lud zur Gesprächsrunde "Alles Lüge – warum wir nicht ohne Lügen und Notlügen auskommen" ein.

Im Mehrgenerationenhaus führte dessen Vorsitzende, Barbara Schwilling, in den Gebrauch des Lügens ein: "Das Kleid steht dir fantastisch", sagt der Ehemann und rollt beim Abwenden die Augen. "Du singst sehr schön", sagt die Lehrerin zum Schüler, obwohl die Ohren schmerzhaft klingeln. Eine Frau quittiert in einem sozialen Medium das Bild ihrer Freundin mit einem "gefällt mir", obwohl sie es hässlich findet.

"Jeden Tag rutschen uns Lügen heraus", befindet Schwilling und regte den Kreis mit einer provokanten These an: "Zum Glück, denn Lügen halten die Gemeinschaft zusammen – meinen Forscher" (siehe Infokasten). Die Gesprächsrunde des Vereins diskutierte in vier Kleingruppen die These und wägte sie mit der Alltagserfahrung ab.

Notlügen sind erlaubt

"Notlügen sind erlaubt, um jemanden zu schützen und zu motivieren", urteilte die erste Gruppe: Mit einem Lob, und sei es eine Notlüge, erreiche man mehr als mit einem Tadel oder der Wahrheit. Wenn jedoch eine Lüge Schaden zufüge, so sei sie zu verurteilen. Dabei verlässt sich deren Sprecherin auch auf den Instinkt der Beteiligten: Aufmerksame Zuhörer spüren und sehen, ob der Andere die Wahrheit sage. "Lügen zur Motivation von Kindern darf man nicht als eine Lüge bezeichnen", urteilte die zweite Gruppe.

Wenn Kinder bei einem Gekritzel gelobt würden, so motiviere man sie zum Weitermachen. Die Gruppe bezweifelte jedoch, dass Lügen die Gemeinschaft zusammenhalten und wies auf deren Schadenspotential hin: Indem sie die Menschen spalten kann, zerstöre sie die Gemeinschaft. In vielen Ländern würden Menschen belogen, mit der Folge einer gespaltenen Gesellschaft.

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Die dritte Gruppe legte Wert auf den feinen Unterschied. Natürlich solle man Schüler motivieren, aber sollte dies um jeden Preis geschehen? Es scheint, dass das Maß der Äußerung etwas erst zur Lüge mache. Jemanden unangemessen und übertrieben zu loben, habe etwas Boshaftes an sich, so die Sprecherin.

Die Gruppe überdachte ebenso das Phänomen der Darstellung in den sozialen Netzwerken. Sie verlocke zu einer Darstellung, um ein Lob oder ein "like" zu bekommen. Die Gruppe fragte nach der Echtheit der Darstellung in sozialen Medien, diskutierte aber auch über ein Recht, die Wahrheit zu erfahren, beispielsweise bei einer Erkrankung. Wichtig sei hierbei ein einfühlsamer und richtiger Ton.

Machen Lügen Menschen Mut?

Die vierte Gruppe überspitzte die These, indem sie sich fragte, ob das Lügen nun moralisch sei. Die Gruppe erkannte zwar deren Nutzen an, um Menschen Mut zu machen und um Traurigkeit abzuwenden. Doch solle man Kinder tatsächlich mit Lügen motivieren? Vor allem, wenn sie kein Talent aufweisen?

Die Gruppe empfahl, eher auf andere Ressourcen des Kindes zu verweisen und diese zu fördern. Dadurch könne ihnen viel Leid erspart werden. Von Anfang an wüchsen Kinder mit Lügen auf, beobachtet der Sprecher. Er wünscht sich Unterrichtsfächer zur gewaltfreien Kommunikation, bei dem Kinder lernen, wie man Bedürfnisse ausdrücken könne, ohne in Verlegenheit einer Lüge zu kommen.

Die Zweischneidigkeit der Lüge

Die Gruppe diskutierte auch über die Zweischneidigkeit der Lüge in der Politik: Einerseits könne durch Lügen ein Wirtschaftscrash oder eine weitreichende Bankenkrise verhindert werden. Doch der Sprecher warnte auch: Seines Erachtens nach könne die Bevölkerung zu Kriegen manipuliert werden. Dabei verwies er auf die deutsche Beteiligung bei der Bombardierung der ehemaligen Republik Restjugoslawiens während des Kosovokrieges.