Selten waren die Menschen unserer Zeit so viel in der Natur wie in diesem Jahr. Das wachsende Interesse an Flora und Fauna, vor allem aber 2020 als Startjahr für die alle zehn Jahre stattfindende Brutvogel-Kartierung am Bodensee, nimmt der Hobby-Ornithologe Thomas Giesinger zum Anlass für einen etwas anderen, buchstäblich beflügelnden Jahresrückblick. „Das fantastische Wetter von März bis Mai bewirkte, dass sich viele Vögel mehr zeigten und auffälliger sangen als in anderen Jahren. Ereignisse, die außerhalb des Bodenseeraums ihre Ursachen haben, beeinflussten das Vogelgeschehen genauso wie das Wetter.“ Bei seiner Rückschau stellt Thomas Giesinger seinen Wohnort Böhringen in den Mittelpunkt.
Invasion von Eichelhähern
Bis in den April hinein überflogen große Trupps von Eichelhähern den Bodenseeraum, auch dutzendweise Böhringen. An einem Wintertag wurden bei Überlingen über 20.000 gezählt. Wie kam es dazu? 2019 gab es in Folge des Klimawandels im Osten Europas große Waldbrände. In Russland verbrannte eine Fläche so groß wie Nordrhein-Westfalen. Auch in Brandenburg brannte der Wald. Fachleute spekulieren, dass der Zug damit zusammenhängen könnte.
Krummschnäbel auf den Feuchtwiesen
Die feuchten Wiesen des Radolfzeller Aachrieds, Gemarkung Böhringen, beiderseits der schönen Allee nach Moos sind den Winter über das Rastgebiet des Großen Brachvogels. Der Tisch ist für ihn reichlich gedeckt: Regenwürmer. Die krähengroßen Schnepfen mit dem Krummschnabel stammen aus Norddeutschland. 120 dieser Vögel waren an einem Sonntagnachmittag im Februar 2020 zu sehen.

Unscheinbare und Auffällige
Schon Ende Februar beginnt die Heckenbraunelle zu singen. Sie sieht aus wie ein eleganter Spatz und ist viel häufiger zu hören als zu sehen. Sie braucht Buschland, davon gibt es rund um Böhringen erfreulich viel. Ihr Gesang ist hoch, schnell und lebendig, ähnlich wie bei Zaunkönig oder Rotkehlchen, aber weniger energisch. Im Frühling 2020 war das Rotkehlchen der auffallendste Sänger des Böhringer Waldes, mehr als Singdrossel und Buchfink, die sonst dominieren. Offenbar bewirkte das herrliche Frühlingswetter vermehrte Sangeslust.
Überraschungen im Schilf
Obwohl Böhringen nicht über großflächiges Schilf verfügt wie Mettnau oder Mindelsee, stellte sich 2020 heraus, dass deutlich mehr Teichrohrsänger hier brüten als bisher vermutet. Rohr ist ein altes Wort für Schilf. Aus den Schilfbeständen, etwa beim Böhringer See, erschallte im Mai vielerorts sein Gesang, von dem manche sagen, er erinnert an das Geschrei wildgewordener Schimpansen. Und noch eine freudige Überraschung gab es: Die Rohrammer, die sonst große Schilfflächen bevorzugt, brütet auch in Böhringen. Weil sie Sperlingen ähnelt und der Gesang entsprechend klingt, gab die Rohrammer Anlass für die Redensart: „Der schimpft wie ein Rohrspatz!“
Die große Stille nach dem langen Konzert
Im Sommer rufen bei den Naturschutzverbänden oft besorgte Naturfreunde an: „Ich höre keine Vögel. Haben wir denn ein Vogelsterben?“ Das ist in aller Regel nicht der Fall: Der Frühjahrsgesang hört spätestens Ende Juni auf. Die Vögel haben ihre Reviere abgegrenzt, ihre Partnerinnen erobert. Sie sind mit Füttern beschäftigt – viele Vogelarten brüten mehrmals: Nach zwei Monaten Dauergesang sind sie einfach erschöpft. Die zunehmende Sommerhitze verstärkt dieses Phänomen noch.
Zeit zum Weiterziehen
Im September nehmen die Schwalben Abschied. Im Weiherhof brüteten 2020 insgesamt 18 Paare Rauchschwalben. Sie brauchen Ställe. Für die Mehlschwalben gilt Böhringen als eine Art Hotspot, als besonders wichtiges Gebiet. Sie brüten unter dem Dachtrauf vieler Häuser. Auch wenn die Schnakenplage die vergangenen Jahre weniger schlimm war: Das Ried rund um den Böhringer See, das Aachried und die Reichenauer Wiesen südlich von Böhringen bringen viele Insekten hervor. Das gefällt den Schwalben. 2020 drohte aufgrund eines Kälteeinbruchs im September die Gefahr, dass es die Jungen der dritten Brut nicht schaffen. Ein verspätetes Junges konnte in die Obhut des Vogelpflegevereins Biotop in Volkertshausen gegeben werden.
Elegant und ganz in Weiß
Ein besonderes Ereignis ist es jedes Mal, wenn der Silberreiher am Bach steht. Nachdem die schönen weißen Vögel von Südosteuropa kommend den Bodensee als Winterrastgebiet entdeckt haben, bleiben jetzt einige auch den Sommer über. Stockenten ziehen am Böhringer Mühlebach ihre Jungen groß. Zahlreiche Vögel werden durch Wasser, bachbegleitendes Gebüsch und Bäume angelockt. Auch 2020 machten ab Ende September Zeisige auf den Erlen Rast – manchmal Trupps von 50 Vögeln. Sie brüten in unseren Mittelgebirgen.
Trompetenrufe über dem Dorf
Sie brüten in Mecklenburg und Schweden und überwintern in der spanischen Extremadura. Nachdem im Oktober 2019 bei Tag 70 von ihnen in typischer V-Form über Böhringen Richtung Süden flogen, kamen sie dieses Jahr morgens um fünf Uhr an einem späten Oktobertag. Eine halbe Stunde lang waren ihre Trompetenrufe über Böhringen zu hören. Die Rede ist von den Kranichen, deren Zug seit einigen Jahren auch den westlichen Bodenseeraum streift. Manchmal landen sie auch für eine kurze Rast.

Königsfischer hält Ausschau
Kingfisher nennen die Engländer den schönen, blau schimmernden Eisvogel. Er brütet an Flüssen mit Lehmsteilwänden, etwa an der Aach bei Volkertshausen. Zum Jagen kommt er vor allem im Winterhalbjahr auch nach Böhringen. 2020 war er am Mühlebach bei der verlängerten Dorfbachstraße, am Bachufer beim Campingplatz, oft am Böhringer See und auch regelmäßig am Litzelsee zu sehen. Typisch für ihn: Er sitzt auf Zweigen, die übers Wasser hängen und sein schriller Pfiff kündigt seine Anwesenheit an.
Weihnachtsstörche auf den Kirchendächern
Um das Christfest 2020 herum wählten etwa ein Dutzend Störche die Dächer der beiden Böhringer Kirchen als Schlafplätze. Ein merkwürdiger Anblick, verbinden wir doch diese Vögel eher mit Frühling und Sommer. Etwa 50 unserer Brutstörche bleiben den Winter über da. Sie kommen mit der Kälte gut zurecht. Solange kein tiefer Schnee liegt oder starker Frost herrscht, finden sie auch Nahrung. 2020 war ein Rekordjahr: Mit über 40 Nestern und über 70 Jungstörchen war Böhringen ziemlich sicher Rekordhalter unter den deutschen Storchendörfern.