Rückblickend einer Person in den Kopf oder in sein Herz blicken zu können – das ist eine schwierige Aufgabe, die Historikerinnen und Historiker manchmal auf sich nehmen. Vor allem, wenn es dabei um Gesinnungsfragen während der NS-Diktatur geht, bleibt oft unklar, wie jemand wirklich dachte oder fühlte. Mit einem Vortrag im Rahmen der aktuellen Sonderausstellung zu Radolfzell während der Diktatur der Nationalsozialisten, versuchte sich die promovierte Historikerin Carmen Scheide der Person August Kratt zu nähern.

Die Frage, wie seine Ehrenbürgerwürde mit seiner Mitgliedschaft in der NSDAP zusammenpasst, beschäftigt momentan auch den Radolfzeller Gemeinderat. Denn es gibt einen Antrag der Freien Grünen Liste, Kratt diese Ehrung rückwirkend symbolisch wieder abzuerkennen. Der Gemeinderat will darüber ausführlich in seiner kommenden Sitzung am 24. Juni ab 16.30 Uhr diskutieren. Über den Antrag der FGL wird der SÜDKURIER noch ausführlich in Kürze berichten.

Kritik an unkritischer Aufarbeitung der Nachkriegszeit

Fraktionssprecher Siegfried Lehmann fordert darin eine besondere Beachtung der „folgenschweren nationalsozialistischen Durchdringung der Stadtgesellschaft, die mit der von den NS-Bürgermeistern und NS-Gemeinderäten in Radolfzell unterstützten Stationierung der SS-Einheiten in Radolfzell einherging“. Ebenso müsse man für die Bewertung der Sachlage die Judenpogrome in der Region einbeziehen, die von der Radolfzeller SS-Kaserne ausgingen, sowie den „unkritische[n] und problematische[n] Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Stadt während der Nachkriegszeit“.

Für den Gemeinderat hatte Carmen Scheide, Professorin für osteuropäische Geschichte in Bern, ein Gutachten über den ehemaligen kommissarischen Bürgermeister August Kratt angefertigt. Im Friedrich-Werber-Haus stellte sie dieses vor. Auch ein Interview mit Hermann Kratt, seinem Enkel, sowie eine Diskussionsrunde waren Teil des Abends.

August Kratt im Jahr 1959.
August Kratt im Jahr 1959. | Bild: Specht Ruediger

In der Diskussion zeigten sich unterschiedliche Sichtweisen auch bei den Zuhörern. Einige sprachen sich für eine Straße in Kratts Namen aus. Andere forderten mehr Auseinandersetzung mit den Argumenten für eine Aberkennung.

Eine Besucherin kritisierte, dem Vortrag mangele es an Tiefe. Kratt habe sich laut ihren Quellen an den Folgen des Antisemitismus bereichert, so ihr Vorwurf. Historikerin Scheide entgegnete, dafür habe sie im Zuge ihrer Forschung keine Belege gefunden – sie sei aber offen für neue Quellen.

Eine Prüfung der Einzelfälle

Zu Beginn erläuterte Scheide ihre Methode für das Gutachten: “Um herauszufinden, wie jemand zur NS-Diktatur stand, reicht es nicht, nach Mitgliedschaften, dem Aufhängen von Nazi-Flaggen oder dem Tragen von Uniformen zu fragen“, erklärte sie. Vielmehr müsse jeweils eine Einzelfallprüfung folgen, die quellenbasiert untersuche, wie sich eine Person verhalten habe, wo Handlungsoptionen genutzt wurden und wie die Person im Vergleich zu anderen Personen zu bewerten sei.

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Auf dieser Basis habe die Historikerin anhand zahlreichen Quellen Kratts Biografie rekonstruiert. Geboren 1882, kam er 1902 nach Radolfzell, diente im Ersten Weltkrieg an der Ostfront und eröffnete 1919 ein Kaufhaus. 1933 trat er in die NSDAP ein, 1939 wurde er – ohne Wahl – als erster Beigeordneter ernannt und später kommissarischer Bürgermeister. 1962 erhielt August Kratt die Ehrenbürgerwürde – offiziell wegen seines städtischen Engagements. So viel zu den belegten Jahreszahlen seines Lebenslaufes.

Konflikte mit der NSDAP-Führung vor Ort

Doch wie sah es im Inneren von August Kratt aus? Um seine Haltung zum Antisemitismus des NS-Regimes einordnen zu können, zog Scheide drei dokumentierte Parteikritiken heran, in denen Kratt mangelnde Linientreue vorgeworfen wurde: 1937 wurde er zeitweise aus der NSDAP ausgeschlossen, weil er für die Narrizella Stoff bei einem jüdischen Händler bezogen hatte. 1938 geriet er als Gutachter im Rahmen der Enteignung des jüdischen Geschäfts Levi in die Kritik, weil er sich angeblich auf Angaben des Besitzers verlassen hatte und dessen Schätzung zu niedrig gewesen sei.

Und kurz vor Kriegsende entzog ihm die SS vorübergehend das Amt des stellvertretenden Bürgermeisters – wegen angeblicher Unzuverlässigkeit, wie es in dem Dokument hieß. Diese Vorgänge, so Scheide, zeigten die Spannungen innerhalb des NS-Systems und wiesen auf lokale Machtkämpfe hin.

Feldpost mit antisemitischen Inhalten

Doch gab es auch andere Quellen, auf die sich der Antrag der FGL ebenfalls stützt. Konkret geht es um Feldpostbriefe mit antisemitischen Inhalten. Diese habe Kratt zeitweise als stellvertretender Bürgermeister unterzeichnet, so die Historikerin. Sie stellte aber die Frage auf, ob er sie auch selbst verfasst habe. Der Ton der Texte unterscheide sich laut Scheide deutlich von seinem sonst eher nüchternen Schreibstil.

Hier zeige sich exemplarisch das Dilemma der Zuschreibung in autoritären Strukturen, wie die Historikerin weiter erklärte: Unterschrift bedeutete nicht zwangsläufig inhaltliche Autorenschaft – und doch sei er als Mitzeichnender Teil des Apparats gewesen.

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In der Kriegsendphase trat Kratt laut dem Gutachten für eine gewaltfreie Übergabe der Stadt ein. Scheide betonte ebenso, Kratt habe im Gegensatz zu vielen anderen seine NSDAP-Mitgliedschaft selbst gemeldet und seine Funktion nie geleugnet.

Im Rahmen der Entnazifizierung sei er als Mitläufer eingestuft worden. Begründet wurde dies zum einen durch seine NS-Funktionen, zum anderen aber auch durch Aussagen, die ihm humanitäres Verhalten zuschrieben: etwa sein Einsatz für eine würdige Bestattung zweier US-Piloten und der verstorbenen Zwangsarbeiter. Auch ein ehemaliger Dachau-Häftling sprach ihm zu, er habe sich „ordentlich verhalten“.

Jüngster Enkel von August Kratt, Hermann Kratt.
Jüngster Enkel von August Kratt, Hermann Kratt. | Bild: Constanze Fleiner

Enkel gibt Einblick in das Familienleben

Doch wie war der Familienmann August Kratt? Einen Einblick geben Familienmitglieder, die dem Vortrag beiwohnten. Im Interview erzählte Hermann Kratt, Enkel von August Kratt, in der Familie sei kaum über die NS-Zeit gesprochen worden. Der Großvater sei ein stiller, zurückgezogener Mensch gewesen, der bis ins hohe Alter täglich ins Geschäft ging. „Wir Enkel schätzen ihn sehr“, so Kratts Erinnerung an den Großvater.

Viele Details habe er erst durch das Gutachten erfahren – die Familie sei für die Forschung dankbar. Warum es keine Straße mit Kratts Namen gibt, habe ihn immer gewundert, und die Debatte über eine Aberkennung der Ehrenbürgerwürde sei für ihn überraschend gekommen.