Radolfzell Die Aufarbeitung der NS-Zeit ist auch 80 Jahre nach Kriegsende keineswegs abgeschlossen. Das machte jüngst ein bewegender Vortrag, den Jörg Schlenker im Stadtmuseum hielt, deutlich. Er ist Teil des Begleitprogramms zur Sonderausstellung „Radolfzell 1933–1948: Diktatur, Krieg und Danach“. Thema war die von Schlenker und Carmen Pestka konzipierte Ausstellung „Ewald Jauch und die Kinder vom Bullenhuser Damm“, die vor zwei Jahren in Schwenningen gezeigt wurde. Vor über 30 Besucherinnen und Besuchern erzählte Schlenker, wie es zur Ausstellung kam – von Zufällen und Recherchefunden bis hin zu den Diskussionen, die sie auslöste.
Museumsleiter Rüdiger Specht begrüßte das Publikum, ebenso wie Andreas Baumer, Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg – Kooperationspartner der damaligen Ausstellung. Baumer lobte das Engagement der Initiatoren: Es sei „ein gutes Beispiel für zivilgesellschaftliche Beteiligung“, und Schlenker und Pestka hätten ihre „Empörung, dass wenig über den NS-Verbrecher bekannt war, in Energie umgesetzt“.
Kaum bekannter NS-Verbrecher
Zu Beginn betonte Schlenker, dass Pestka und er reine Privatpersonen seien, keine Historiker. Die Spurensuche begann mit einem Zeitungsartikel über Ewald Jauch, einem Kriegsverbrecher aus Schwenningen. Dieser war 1946 in Hamburg für seine Beteiligung an der Ermordung von 20 jüdischen Kindern und ihren Pflegern im ehemaligen Schulgebäude am Bullenhuser Damm hingerichtet worden. Zuvor waren die Kinder als medizinische Versuchspersonen im KZ-Neuengamme missbraucht worden. Als das Kriegsende nahte, wurden sie heimlich ermordet. Schlenker besuchte die heutige Gedenkstätte in Hamburg und war sehr bewegt: „Ich habe mich geschämt und mir sind die Tränen gekommen.“ Umso größer war die Bestürzung, dass in Schwenningen kaum etwas über Jauch bekannt war. Auch die dreifache Ablehnung einer Stolperstein-Initiative im Gemeinderat Villingen-Schwenningen machte ihn sehr betroffen. Als die TV-Dokumentation Nazijäger erschien, in der Jauch kurz erwähnt wurde, war auch Pestka mit dabei – gemeinsam planten sie, die Wanderausstellung der Gedenkstätte nach Schwenningen zu holen.
Doch es kam anders, denn bald erkannten beide: „Wir können eine Biografie von einem Täter darstellen – und zwar ins kleinste Detail.“ Ziel war es, so Schlenker: „Wir wollen Ewald Jauch als Mahnung aufzeigen.“ – denn: “Ein Massenmord war möglich, weil hunderttausende Kleine mitgemacht haben.“ Im Stadtarchiv entdeckten sie eine Personalakte, da Jauch zeitweise als städtischer Hilfsarbeiter angestellt war. Diese Akte enthielt viele Informationen, wie auch Briefwechsel mit dem damaligen Oberbürgermeister – ein Glücksfall für die Recherche. Jauch, so erklärte Schlenker, war „der kleine Mann, der irgendwie unzufrieden ist“. In der SPD-geprägten Stadt war er ein früher Anhänger der NSDAP und SS – ein sogenannter „alter Kämpfer“. Nach der Machtübernahme forderte er eine Vollzeitstelle, reichte Beschwerden ein, versuchte sich jedoch auch lange dem Kriegsdienst zu entziehen. Schließlich wurde er einem Totenkopfverband in Polen zugeteilt – verantwortlich für die Ermordung von Juden. Auch dort klagte er über schlechte Bedingungen: In einem Brief beschwerte er sich, es gebe „keinen Wein zum Essen“. Nach einem Unfall wurde er ins KZ-Neuengamme versetzt. Dort führte er offenbar ein angenehmes Leben im unteren Dienst.
Dass Täter wie Jauch weit entfernt von ihrer Heimat eingesetzt wurden, sei kein Zufall, so Schlenker. In der Anonymität hätten sie weniger Skrupel gehabt, sich an den Verbrechen zu beteiligen. Jauchs letzte Tat: Als Wachmann begleitete er Kinder zum Bullenhuser Damm und war an ihrer Ermordung beteiligt. Im anschließenden Prozess der Briten wurde festgestellt, dass er für die Beteiligung Schnaps und Zigaretten bekam. Er erhielt die Todesstrafe.
Trotz intensiver Recherche erwies sich die Finanzierung der Ausstellung als schwierig. Banken, Parteien und Firmen lehnten ab – aus Sorge vor negativen Reaktionen. Erst die Heinrich-Böll-Stiftung erklärte sich zur Kooperation bereit. Die Ausstellung lief drei Wochen – und bewegte viel. In der ersten Woche, so Schlenker, sei die Reaktion geprägt gewesen von Interesse, aber auch Abwehr: Niemand habe etwas gewusst, viele beteuerten, ihre Familien hätten nichts mit dem NS-Regime zu tun gehabt. Doch das änderte sich: Immer mehr Besucher brachten neue Informationen ein, erzählten von Zwangsarbeit, von Jauch und fingen an, ihre eigene Familiengeschichte zu hinterfragen. Schlenker resümierte: „Jetzt hat man gemerkt – jetzt kippt diese Lebenslüge.“
Auch in Radolfzell war die Resonanz groß. Viele Besucher zeigten sich tief bewegt, der anschließende Austausch war intensiv. Die Jauch-Ausstellung wird demnächst in Eindhoven (Niederlande) zu sehen sein, wo zwei der ermordeten Opfer herstammten.