Der Fall um die Ehrenbürgerwürde von August Kratt bewegt die Menschen in ganz Radolfzell. Die Redaktion hat dazu zahlreiche Leserbriefe erhalten.

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Mehr Einordnung zum Leben von August Kratt wünscht sich Annalisa Mattes aus Radolfzell:

Die Historikerin präsentierte zahlreiche historische Quellen und beleuchtete die Biografie von August Kratt eindrucksvoll. Auch der Enkelsohn trug mit sehr persönlichen Einblicken zum Gesamtbild bei. Was mich jedoch irritiert und bedrückt hat, ist die fehlende Einordnung der politischen Rolle von August Kratt im Nationalsozialismus. Seine Mitgliedschaft in der NSDAP war zentrales Thema des Abends – umso unverständlicher ist es, dass gerade diese Tatsache nicht kritisch eingeordnet wurde. Es wurde ein durchweg positives Bild eines „netten“ und engagierten Menschen gezeichnet – das mag er auch im Privaten wie auch im Beruflichen gewesen sein.

Und ja, unbestritten ist, dass August Kratt sich während seines Lebens in vielerlei Hinsicht für die Stadt verdient gemacht hat. Nichtsdestotrotz gilt: Er war nicht nur Parteimitglied, sondern hatte als Bürgermeister ein höheres politisches Amt inne. Dass dies im Vortrag nicht kommentiert oder bewertet wurde, lässt eine wesentliche historische Verantwortung unerwähnt. Die Mitgliedschaft in der NSDAP war nicht neutral. Wer sich diesem System angeschlossen und es aktiv mitgetragen hat, unabhängig davon, ob ihm persönlich Verbrechen nachgewiesen werden können, trägt Mitverantwortung für das, was dieses Regime angerichtet hat.

August Kratt im Jahr 1959.
August Kratt im Jahr 1959. | Bild: Specht Ruediger

Es geht mir nicht darum, jemanden pauschal zu verurteilen oder familiäre Erinnerungen zu entwerten. Aber gerade im historischen Rückblick braucht es eine kritische Einordnung. Erinnerung darf nicht beschönigen, sie muss ehrlich sein. Dass diese Einordnung von der Historikerin nicht vorgenommen wurde, ist bereits problematisch – dass sie aber auch am Ende durch den Enkelsohn ausblieb, hat mich befremdet. Das hat an diesem Abend gefehlt – und ich halte das für einen gefährlichen blinden Fleck.

Bernhard Widder aus Elchingen schildert das Wirken Kratts aus den Erinnerungen seiner Großmutter, die damals in Radolfzell lebte:

Es mutet schon recht eigenartig an, dass das Thema ausgerechnet zu einem Zeitpunkt hervorgeholt wird, zu dem hinreichend sicher ist, dass wirklich alle Zeitzeugen tot sind. Als Vertreter der 68er-Generation darf ich darauf verweisen, dass wir schon damals nicht ignorant waren, aufgrund der Berichte der Zeitzeugen in Familie und Schule – hier insbesondere durch den damaligen Geschichtslehrer Bruno Epple – aber vielleicht ein differenzierteres Bild bekommen hatten.

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Meine Großeltern hatten in der Seestraße eine Metzgerei und meine Mutter, Jahrgang 1913, hatte im April 1945 als Rotkreuz-Helferin zusammen mit ihrer Freundin die Aufgabe, Tiefflieger-Opfer zu bergen. Laut ihrer Schilderung war die Situation in Radolfzell angesichts der SS-Kaserne äußerst bedrohlich. Es war in der Stadt allgemein bekannt, dass die kurz vor Böhringen stehenden Franzosen gedroht hatten, Radolfzell zu zerstören, wenn die SS nicht kapitulierte. Diese hatten das Ultimatum jedoch verstreichen lassen und es sei daraufhin schon ein Bomberkommando angefordert worden.

Das bereits zuvor gut eingespielte „Team“ August Kratt und Stadtpfarrer Zuber habe dann zusammen mit Vikar Ruby unter hohem eigenem Risiko die Bombardierung buchstäblich in letzter Minute verhindert. Ich möchte nicht wissen, wie viele derjenigen, die aktuell die posthume Aberkennung der Ehrenbürgerwürde fordern, soviel Mut und Verantwortungsgefühl für ihre Stadt aufgebracht hätten.

Gerd Wassermann aus Radolfzell sieht einen großen Unterschied im Verzeihen und Vergessen:

Es sind im Gedenken an zahlreiche Opfer des Nationalsozialismus in Radolfzell derzeit 30 Stolpersteine verlegt. Zirka noch einmal dieselbe Anzahl steht noch aus. All diese Radolfzeller Bürgerinnen und Bürger wurden unter der Nazi-Herrschaft drangsaliert, verstümmelt oder ermordet. August Kratt war in dieser Zeit nicht nur einfaches Mitglied der NSDAP, er war Stellvertreter des Bürgermeisters (von der NSDAP ernannt, nicht gewählt) und Mitglied in einigen anderen NS-Organisationen. Er war also freiwilliger, hervorgehobener Vertreter und damit Teil des NSDAP-Systems.

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Er gab nach dem Krieg in einem Verhörprotokoll an, er habe „für die Rettung von Menschenleben mehr getan als mancher heutige Antifaschist“. Angesichts der Tatsache, dass seine damalige Partei die meisten politischen Gegner in Gefängnisse und KZs gebracht oder gleich umgebracht hat, klingt das wie beißender Hohn. Aufgrund seiner wohl positiven Rolle bei der friedlichen Übergabe der Stadt an die Franzosen 1945 kann man seine vorherige Rolle vielleicht verzeihen. Vergessen kann und darf man es nicht. Dass man ihn aber zum Ehrenbürger der Stadt gemacht hat, ist aus meiner Sicht geradezu absurd. Ich fürchte, dass 1962 viele der an dieser Entscheidung Beteiligten allzu leicht damit sagen konnten: So schlimm war es doch gar nicht – war es aber doch!

Sylvia Stoffel aus Gaienhofen-Horn sieht die Kritik an August Kratt als ungerechtfertigt an:

Gerade eben hat man das gute Ende des Zweiten Weltkriegs für die Stadt Radolfzell gefeiert, da kommen die Stimmen wieder auf den Plan, das alles ins schlechte Licht rücken zu müssen. Was legt man für einen Eifer an den Tag, an Menschen Kritik zu üben, die sich in schweren Zeiten zugetraut haben, sich für ihre Stadt einzusetzen!

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Will sich da jemand heute ins rechte Licht rücken? Was soll das krampfhafte Nachforschen nach dem berühmten Haar in der Suppe bei einflussreichen Menschen wie August Kratt? Vergisst man denn den mutigen Einsatz der Personen wie August Kratt, Gastwirt Volk und allen voran die Vertreter der Kirche, die das Ende durch Hissen der weißen Fahne einleiteten? Haben die Personen, welche unterschrieben haben für eine Aberkennung der Ehrenbürgerwürde, überhaupt eine Vorstellung von diesen wirren Zeiten? Haben sie überhaupt einen Bezug zu dieser Stadt? Doch das Motto „Wer von ihnen ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“ kennt wohl jeder.

Hansjörg Blender aus Radolfzell fragt sich, wie sich heute jeder in dieser Situation verhalten hätte:

In vielen Gesprächen in der Nachkriegsgeneration (ich bin Jahrgang 1953) geht es, wenn man mit Geschehnissen aus der Nazi-Zeit konfrontiert wird, um die entscheidende Frage: Wie hätte ich mich damals selbst verhalten? Dieses in der Verantwortung für Familie, Unternehmen und Gesellschaft in der damaligen Zeit, mit dem damaligen Geschichtshintergrund und Medien.

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Keiner hatte je eine schlüssige Antwort parat. Mit dem Aufbruch zu einem neuen demokratischen Staat, der Wirtschaft im Wachstum, wurde das Denken und Zweifeln an der Vergangenheit versucht zu überwinden. Dies war auch in den Bildungsplänen der Schulen so. Das Dritte Reich war als Thema ausgespart. Es gab für uns damals keinen Grund nachzufragen. Daher haben unsere Eltern und Großeltern hierüber nur ganz wenig gesprochen. Das sollten wir heute respektieren.

Bis auf die tatsächlich aufgrund von Tatsachen verurteilten Nazi-Verbrecher sollten wir unseren Eltern und Großeltern den Respekt zollen, dass diese, aus ihrer damaligen Sicht der Dinge, die für sie richtigen Entscheidungen getroffen haben oder auch treffen mussten.

Dies gilt auch für die Stadträte 1962 und auch für die Zukunft. Die Stadträte 1962 hatten den Vorteil, dass diese näher am Geschehen der Vergangenheit waren und daher auch nach bestem Wissen und Gewissen August Kratt die Ehrenbürgerwürde verliehen haben. Ich würde mir nicht anmaßen, dieses mit heutigen Maßstäben zu beurteilen.

Daher ist die jetzige Diskussion für mich mehr als fragwürdig. Geschichte zu erforschen ist wichtig, aber daraus gerechte Urteile über Vergangenes heute zu bilden ist nach meiner Meinung beinahe unmöglich. Damit wird auch unsere Stadt ihrer Verantwortung gerecht.