Die Böhringer Storchenkolonie hat dieses Jahr Riesenzuwachs bekommen. Mit 46 Brutpaaren haben gegenüber dem Vorjahr 13 weitere Storchenpaare auf Böhringens Dächern Quartier bezogen, wie der Storchenbeauftragte Wolfgang Schäfle jüngst dem Ortschaftsrat berichtete.
Nachdem im Unterdorf rings um die Evangelische Kirche keine Dächer mehr frei sind, erobern die Störche nun auch das Oberdorf nördlich der Bundesstraße. Zusätzlich zu den Nestern auf der St. Nikolaus-Kirche wurden drei weitere in der Straße „Bei der Bachbruck“ und in der Kohlerstraße entdeckt.
Insgesamt hat Hans-Peter Wickert, der den „Storchenvater“ bei seiner Arbeit unterstützt, 61 flügge gewordene Jungstörche gezählt. „Aber keine Angst, in den wenigsten Fällen kommen Jungstörche als Brutstörche an ihren Geburtsort zurück“, versuchte Wolfgang Schäfle den Räten die Sorge zu nehmen, dass sich nächstes Jahr allzu viele Störche in Böhringen niederlassen könnten.
Kritiker ernst nehmen
Die Böhringer Weißstorch-Kolonie ist zweifelsfrei eine Attraktion, die Jung und Alt fasziniert. Die positive Stimmung im Ort überwiegt – auch bei den Ortschaftsräten. „Wir sind stolz auf unsere einmalige Storchenpopulation“, unterstrich Ortsvorsteher Bernhard Diehl, „allerdings wollen wir Hausbesitzer, die den Störchen kritisch gegenüberstehen, nicht aus den Augen verlieren“.
Wie viele Beschwerden 2020 über verschmutzte Dächer und verstopfte Dachrinnen konkret bei der Ortsverwaltung eingegangen seien, wollte Ortschaftsrat Wolfgang Tietze (FDP) wissen. „Nur eine“, so die Antwort des Ortsvorstehers.
Auch wenn weitere Beschwerden ausgeblieben sind, so sehen Edgar Weidele (CDU) und Peter Lingg (CDU) doch, dass sich einige Bürger allein gelassen fühlen. „Die Störche und die Nester stehen unter Naturschutz, aber niemand will für die Schäden aufkommen“, argumentierte Weidele.
Störche machen, was sie wollen
Erneut schlug Peter Lingg vor, die Störche mit Nisthilfen auf Masten oder Baum-Plattformen im Ried und am Ortsrand aus dem Ort zu locken. „Mit 40-jähriger Erfahrung kann ich sagen, dass das nicht funktionieren wird. Die Störche machen, was sie wollen. Zudem hat die Kolonie eine große Anziehungskraft, weil sie den Störchen Sicherheit bietet“, so Wolfgang Schäfle.
Mit Nisthilfen am Ortsrand laufe man zudem Gefahr, dass noch mehr Störche angelockt würden, warnte er. Es sei besser, darauf zu vertrauen, dass die Störche von alleine in Nachbarorte weiterzögen, wenn sie keinen Platz mehr fänden. Auch führte er die hohen Kosten von 2000 Euro pro Mast mit Nistplattform ins Feld.
Thomas Giesinger, Vorstandsmitglied der BUND-Ortsgruppe Radolfzell, betonte, dass Böhringen mit der Rettung der Störche seit 1980 und der großen Kolonie über einen besonderen Schatz verfüge. Die Besenderung von 80 Störchen durch das Max-Planck-Institut habe die Böhringer Störche international in der Vogelzugforschung bekannt gemacht. Der Datensatz sei weltweit einer der besten zum Weißstorch und Böhringen in Fachkreisen berühmter als man denke.
Störche könnten dem Tourismus dienen
Böhringen habe mittlerweile mehr Störche als das Deutsche Storchendorf Bergenhusen in Schleswig-Holstein und das Europäische Storchendorf Rühstädt in Brandenburg. „Höchstwahrscheinlich ist Böhringen das Dorf in Baden-Württemberg mit den meisten Störchen, wahrscheinlich bundesweit“, vermutet er. Nur auf dem Affenberg in Salem und im Luisenpark in Mannheim gebe es mehr Störche.
Er schlug vor, die Böhringer Störche stärker für die Tourismuswerbung zu nutzen und wies auf das Kuriosum hin, dass Allensbach auf seiner Website mit den Böhringer Störchen werbe.
Der Vorschlag kam im Rat gut an, ebenso wie die Anregung von Christian Schütz (Freie Wähler), zu prüfen, ob für eine noch bessere Akzeptanz in der Bevölkerung ein gemeinnütziger Storchenfonds ins Leben gerufen werden könnte, aus dem Geschädigte Unterstützung erhalten.
Ortsvorsteher Bernhard Diehl verwies bezüglich der Vermarktung auf die Tourismus- und Stadtmarketing Radolfzell GmbH. Es sei jedoch zu überlegen, auch eine Bürgerbeteiligung zu starten.
Geschichte und Wissenswertes zum Leben der Böhringer Störche
- Zahlen und Fakten zum Weißstorch: Laut BUND-Fachmann Thomas Giesinger ist in Baden Württemberg der Weißstorch-Bestand von knapp 200 Paaren im Jahr 1934 auf 15 Paare im Jahr 1975 gesunken. Grundlage für die Rettung der Störche war ein bundesweites Auswilderungsprogramm mit Störchen aus Algerien. Erfolgreiche Maßnahmen in Deutschland waren Wiesenschutz und Wiedervernässung, Entschärfung von Strommasten und bessere Nistplattformen. 2019 zählte man wieder 1334 Storchenpaare in Baden-Württemberg. In Böhringen, wo Wolfgang Schäfle 1980 das erste Storchennest auf dem Hausdach hatte, wurden bisher vom Max-Planck-Institut Möggingen 80 Störche besendert.
- Vogelzug und Überwinterung: Etwa die Hälfte der Böhringer Störche überwintert heute in Spanien und Frankreich, ein weiterer Teil in Marokko. Nur etwa ein Drittel fliegt bis Senegal, Gambia oder Mali.
- Futtersuche: Einen Schwerpunkt für die Böhringer Störche bilden die Wiesen rund um Böhringen, aber auch die Wiesen des Radolfzeller Aachrieds bis Überlingen am Ried und Bohlingen, das Mindelseegebiet und die Wiesen des Weitenrieds im Dreieck Volkertshausen-Steißlingen-Beuren sind wichtige Nahrungsquellen. Für Nahrungsflüge fliegen die Störche sogar bis in die Schweiz. Erwachsene Störche fressen etwa 500 Gramm pro Tag. Über die Hälfte machen Regenwürmer und Mäuse aus, dazu kommen Heuschrecken, Käfer, Schnecken, Blindschleichen, Eidechsen, Frösche und Fische. Jungstörche fressen bis zu 1200 Gramm am Tag, mehr als zwei Drittel machen Regenwürmer aus. Außerdem alles, was weich ist: Schnecken, Asseln, Weichkäfer, „weiche“ Amphibien, Heuschrecken und andere Insekten.