Es sind Nachrichten, da müssen sich gestandene Radolfzeller erst einmal setzen, von einem Aufschrei aus der Bevölkerung oder den politischen Parteien ist noch wenig zu spüren. Das Textilunternehmen Schiesser plant trotz guter Auftragslage den Abbau von zehn Prozent des Personals. Oder: Etwa 75 von rund 750 Beschäftigten sollen das Unternehmen verlassen. Die Geschäftsführung zielt dabei in vielen Fällen auf langjährige Mitarbeiter. Manche sind seit über drei Jahrzehnten bei Schiesser, nun sollen sie die Firma „freiwillig“ verlassen. Die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt sind gering, die angebotene Abfindungssumme dürfte in den seltensten Fällen zur Überbrückung bis zur Rente reichen. Um den Druck auf diese Arbeitnehmer zu erhöhen, belässt die Schiesser-Geschäftsführung sie in der Kurzarbeit. Dafür müssen andere im Unternehmen Überstunden leisten.
- Die Fairness fehlt: Selbst dem Liberalen Jürgen Keck, Noch-Landtagsabgeordneter der wirtschaftsfreundlichen FDP und Stadtrat in Radolfzell, fallen wenig Argumente ein, diese Unternehmenspolitik gutzuheißen. Er selbst kenne betroffene Angestellte bei Schiesser und sei fassungslos, „wie man mit Mitarbeitern so umgeht und versucht, sie mit Tricksereien heraus zu bugsieren“. Er verstehe nicht, warum Schiesser nicht eine „offene, ehrliche Personalpolitik“ betreibe. „Normal wäre, wenn das Unternehmen zusammen mit dem Betriebsrat einen Sozialplan ausarbeitet und den Betroffenen ein faires Angebot unterbreitet.“ Das sei aber aktuell bei Schiesser nach seiner Wahrnehmung und seinen Informationen nicht der Fall. „Das kann es doch nicht sein, wenn jeder Mitarbeiter sich fragt, bin ich der nächste?“ Solch eine Stimmung hält er für fatal: „Das trägt nicht zum Vertrauen in den Arbeitgeber bei, das kostet letztendlich das Unternehmen mehr, wenn ein Klima der Angst herrscht.“
- Es geht wieder los: Der Sprecher der Fraktion der Freien Wähler, Dietmar Baumgartner, kann über diese Nachrichten nur den Kopf schütteln: „Schade, dass es bei Schiesser wieder losgeht.“ Die Betonung bei Baumgartner liegt auf dem Wörtchen „wieder“. Schiesser und der Stellenabbau, dieses Phänomen tauchte in den vergangenen Jahrzehnten öfter auf. Begonnen habe alles mit der Auslagerung der Produktion nach Tschechien in den Neunzigerjahren, sagt Baumgartner. Allerdings nicht ohne Widerstand: Im Juli 1999 gingen noch 300 Mitarbeiter in Radolfzell auf die Straße und protestierten gegen den Abbau von 540 Stellen. So sieht es Baumgartner: Das Streben nach „Gewinnmaximierung“ sei immer zu Lasten der Arbeitsplätze gegangen. Man habe versucht, das Unternehmen Schiesser durch die Bauleitplanung für das Einkaufszentrum Seemaxx in der Stadt zu halten. Nach der überwundenen Insolvenz 2009 habe er nicht damit gerechnet, dass in einer Zeit, in dem es dem Unternehmen augenscheinlich gut gehe, die ältesten Mitarbeiter weggeschickt würden. „Die haben doch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt“, sagt Baumgartner.
- Der abgehängte Gemeinderat: Im Februar sind die Pläne der benachbarten Firma Allweiler bekannt geworden, der Pumpenhersteller mit Sitz in Radolfzell und Tochter eines amerikanischen Konzerns plant offensichtlich die Verlegung von Teilen der Produktion und der Verwaltung. Damals hat der Gemeinderat schnell reagiert und eine Resolution verfasst. In dem Schreiben an die Allweiler-Geschäftsleitung hieß es: „Wir möchten Sie eindringlich bitten, die Verlagerung von Arbeitsplätzen zu überdenken und positive Signale den Mitarbeitern in den Werken in Radolfzell und Bottrop zu senden.“ Zu Schiesser hat sich der Gemeinderat in seiner Gesamtheit noch nicht geäußert. SPD-Stadtrat Norbert Lumbe kündigt schon einmal an: „Wir werden denselben Text noch einmal verfassen müssen.“ Dieses Mal ginge das Schreiben an die Schiesser-Geschäftsleitung. Doch Lumbe macht sich keine Illusionen. Über die Resolution an Allweiler und falls sie folgen sollte, über die die Resolution an Schiesser: „Das ist Ausdruck einer gewissen Hilfslosigkeit, wir können in die Unternehmensentscheidungen nicht eingreifen.“ Gerade die traditionsreichen Industriebetriebe wie Allweiler und Schiesser würden schon lange nicht mehr das Gespräch mit dem Gemeinderat suchen. „Ich kann nur hoffen, dass wenigstens der OB in Kontakt mit den Unternehmen ist.“ Dass ausgerechnet langjährige Mitarbeiter bei Schiesser in die Kündigung gedrängt würden, widerspreche dem sozialen Frieden, „den wir bisher in der Bundesrepublik hochgehalten haben“, sagt Lumbe. Die Folge sei: „Wir zerstören dieses Basis, die wir für unser Zusammenleben brauchen. Das passiert nicht irgendwo, das passiert hier in Radolfzell.“
- Die Faust regiert: Stadtrat Christof Stadler gehört als CDU-Mitglied einer Partei an, der man wie der FDP eine Nähe zum Unternehmertum unterstellt. Doch Christof Stadler stellt klar, dieses Unternehmertum, wie es gerade bei Schiesser praktiziert wird, sei seine Sache nicht. Seine Wortwahl klingt fast sozialistisch: „Es regiert nur noch die Faust“, sagt Stadler. Langjährige Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken und ein Jahr später die Vertragsauflösung verlangen, sei Personalpolitik mit „Dagobert-Duck-Augen“. Er fände das ethisch verwerflich, man habe als Unternehmen auch eine soziale Verantwortung, doch die werde den Aktienkursen untergeordnet. Stadler bezeichnet diese Personalpolitik bei Schiesser als sehr bedauerlich und sehr fragwürdig, aber auch als „nicht zukunftsfähig“. Wer wolle in einem Unternehmen arbeiten, das mit langjährigen Beschäftigen so umgehe? Stadler sieht wie Lumbe ein schleichendes Entfremden zwischen den Geschäftsführern der Traditionsfirmen und der Stadt Radolfzell. Rudolf Bündgen hat im Juli 2018 das Amt des Vorstandsvorsitzenden der Schiesser AG an Andreas Lindemann übergeben. „Bis dahin hatten wir vom Gemeinderat noch Begegnungen. Jetzt sind wir völlig draußen.“ Stadler, der die Initiative zur Allweiler-Resolution ergriffen und sie in weiten Teilen geschrieben hat, muss sich als Historiker mit einem Szenario beschäftigen, das das Verschwinden der Traditionsfirmen aus dem Stadtbild beschreibt. „Die Gefahr besteht. Ich wünsche es mir nicht, es wäre außerordentlich schade.“
- Keine Radolfzeller Firma mehr: Der Stadtrat der Freien Grünen Liste kennt die beiden Radolfzeller Firmen aus dem Innenleben, Siegfried Lehmann hat in jungen Jahren ein Praktikum bei Allweiler gemacht, seine Mutter hat bei Schiesser als Näherin gearbeitet. Firmengeschichte ist da immer auch Familiengeschichte, die Aufs und Abs sind immer noch präsent. Lehmann habe im Fall Schiesser jetzt mit „Besorgnis zur Kenntnis genommen“, dass ein langjähriger Beschäftigungsgrad keine Gewährleistung für ein sicheres Arbeitsverhältnis mehr sei. „Das Problem ist, dass Schiesser wie Allweiler keine Radolfzeller Firma mehr ist“, sagt Lehmann. Allweiler gehört zur amerikanischen Circor-Gruppe, Schiesser gehört dem israelischen Konsumgüter-Unternehmen Delta Galil. Mitarbeiter würden in globalen Unternehmen hin- und hergeschoben, „die Kosten müssen runter, das geht nur über das Personal“, stellt Lehmann fest. Die Folgen seien dramatisch. „Es gibt keine Eigentümer mehr, die vor Ort sind.“ Die Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzenden würden hier ausführen, was anderswo entschieden werde. Den neuen Schiesser-Chef Andreas Lindemann kenne er nur aus einem oder zwei Zeitungsartikeln. „Früher haben wir als Stadträte die Chefs noch gekannt.“ Die Folgen empfindet Lehmann als schmerzlich, „Empathie gibt es keine mehr“.