Es gibt viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dem Textilunternehmen Schiesser über Jahrzehnte treu gedient haben. Sie haben das Unternehmen durch einige Turbulenzen begleitet und es auch nicht verlassen, als Schiesser vor zehn Jahren vorübergehend pleite war. Sie haben geholfen, das Radolfzeller Unternehmen aus der Krise wieder in wirtschaftlich lohnende Jahre zu führen. Jetzt bekommen sie die Quittung. Schiesser hat sie zum Beginn des Lockdowns im März 2020 in 100 Prozent Kurzarbeit geschickt, jetzt sollen sie in einem „Freiwilligenprogramm“ einen Aufhebungsvertrag unterschreiben. Das Unternehmen will sich „reorganisieren“, was in diesem Fall auch wieder heißt, Personal entlassen.
Vorstandsvorsitzender will keine Zahlen nennen
Thorsten Schlicht, Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall in Singen, spricht von etwa 75 Beschäftigten, die betroffen seien. In Radolfzell beschäftigt Schiesser rund 750 Mitarbeiter. Das wäre ein Personalabbau von zehn Prozent. Das mag Andreas Lindemann, der Vorstandsvorsitzende der Schiesser AG, so nicht bestätigen. „Vor Abschluss der Gesamtmaßnahmen werde ich keine Zahlen nennen können“, teilt uns Lindemann schriftlich mit.
Der Vorstandsvorsitzende nennt allgemeine Gründe, warum Schiesser überhaupt Personal in diesem Ausmaß abbauen will. Die Lockdowns hätten die Schiesser Gruppe hart getroffen. Doch Lindemann sagt auch: „Dem Unternehmen geht es grundsätzlich nicht schlecht.“ Allerdings sei die Entwicklung in den verschiedenen Verkaufskanälen sehr unterschiedlich. „Die hohen Zuwächse im Online-Geschäft können den Umsatzverlust im stationären Handel nicht kompensieren“, schreibt Lindemann. Hinzu kämen die Schwächung des Großhandels aufgrund struktureller Probleme und die veränderten Einkaufsgewohnheiten der Konsumenten. Um Schiesser zukunftsfähig zu machen, bräuchte es eine „strukturelle Reorganisation und damit verbunden leider auch Personalmaßnahmen“. Gemeint sind Entlassungen, nicht Einstellungen.
Freiwilligenprogramm statt Sozialplan
Dies kann in größeren Unternehmen nicht ohne Betriebsrat funktionieren. Das ist auch bei Schiesser so. Doch dort haben sich offenbar Betriebsrat und Geschäftsführung geeinigt. „Wir sind seit längerer Zeit in Gesprächen und sind gemeinsam zum Schluss gekommen, die Problematik größtenteils über ein Freiwilligenprogramm lösen zu wollen. Vorgehen und Durchführung wird vom Schiesser-Betriebsrat ausdrücklich unterstützt“, berichtet Lindemann. Das Freiwilligenprogramm böte Mitarbeitern die Möglichkeit, unter bestimmten Umständen und Voraussetzungen Arbeitsverhältnisse einvernehmlich zu beenden. „Gespräche dazu werden aktuell geführt.“
Instrument auf Gegenseitigkeit
Gewerkschaftssekretär Schlicht bestätigt in weiten Teilen die Stellungnahme des Vorstandsvorsitzenden. Seit September seien Gespräche über eine „Restrukturierung“, also den Personalabbau, geführt worden. Das Ziel der Gespräche sei ein Interessensausgleich und ein Sozialplan für die Beschäftigten gewesen. „Diese Verhandlungen sind aber von der Schiesser AG für beendet erklärt worden“, berichtet Schlicht. Stattdessen sei das „Freiwilligenprogramm“ von der Geschäftsführung ausgelobt worden. Grundsätzlich sei das keine schlechte Sache, findet der Gewerkschafter. In einem Aufhebungsvertrag würden beide Seiten einvernehmlich das Ende des Arbeitsvertrags und die Höhe der Abfindung regeln. Sowohl der Mitarbeiter wie auch der Arbeitgeber könne auf den anderen zugehen und Gesprächsbedarf anmelden. Bei diesem Instrument auf Gegenseitigkeit stünden keine „betriebsbedingten Kündigungen im Raum“, sagt Schlicht. „Alles ist freiwillig, man kann das Angebot auch ablehnen.“
Das Angebot für die Abfindung, das Schiesser den Betroffenen unterbreite, sei üblich: Die Hälfte eines Bruttomonatsverdienstes mal die Jahre der Betriebszugehörigkeit. Doch macht der Gewerkschafter Schlicht eine Einschränkung: „So schön, wie sich das anhört, passt es oft nicht in die Lebensplanung.“ Gerade wer über Jahrzehnte bei einem Unternehmen beschäftigt sei und dann mit Mitte Fünfzig dieses Angebot bekomme, müsse das genau prüfen. „Für den gibt es nicht so viele Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, dann ist die Abfindung schnell verbraucht.“
Drohkulissen in Personalgesprächen
Auch die „Freiwilligkeit“ wird strapaziert. Aus mehreren Quellen wird der gleichlautende Vorwurf formuliert: Die Personalabteilung würde Beschäftigte schon eingangs des Gesprächs mit Aussagen konfrontieren wie „Für Sie gibt es keine Zukunft bei Schiesser“ und „Wenn Sie das Angebot nicht annehmen, werden wir Ihnen kündigen“. Schlicht kann diese Aussagen aus seinem Beratungsalltag mit Gewerkschafsmitgliedern bestätigen: „Das wird gesagt, um Druck aufzubauen. Das ist nicht schön und gehört sich nicht.“ Auch das gehört zur Schiesser-Praxis: Zu den Angesprochenen im Freiwilligen-Programm gehören viele, die im Frühjahr 2020 zu 100 Prozent in Kurzarbeit geschickt worden sind. Gewerkschaftssekretär Schlicht hat dafür eine Erklärung: „Das sind diejenigen, von denen sich die Firma Schiesser schon geistig verabschiedet hat. Leider.“