Als Yassmen Almalati von ihrer Familie erzählt, beginnt sie zu weinen. Die gebürtige Syrerin, die seit 2015 mit Ehemann und vier Kindern in Markelfingen lebt, sitzt im Café International in Radolfzell. Ihre Eltern, ihr Bruder und ihre Schwester sowie deren Kinder leben in Sanliurfa im Süden der Türkei – mitten im Erdbebengebiet. Deren Lage? „Katastrophal“, sagt Almalati mit Tränen in den Augen.

Für Almalati kam der Schock am vergangenen Montag nach dem Aufwachen. „Ich schaue morgens immer sofort auf mein Handy, weil ich meiner Mutter jeden Tag einen guten Morgen wünschen muss“, erzählt sie. Doch am Montag sah sie stattdessen eine Nachricht ihres Mannes: Es habe ein Erdbeben in der Türkei gegeben, sie solle sofort ihre Eltern anrufen. Doch die erreicht sie stundenlang nicht. Strom und Internet in der Türkei sind weg.

Yassmen Almalati aus Syrien, wohnt seit 2015 mit Ehemann und vier Kindern in Markelfingen.
Yassmen Almalati aus Syrien, wohnt seit 2015 mit Ehemann und vier Kindern in Markelfingen. | Bild: Mario Wössner

„Es waren schlimme Stunden, so viel Unsicherheit und Angst. Ich habe so viel geweint, dass ich Nachrichten auf meinem Handy gar nicht mehr lesen konnte“, beschreibt sie die erste Zeit nach dem Erdbeben. Erst nach vier Stunden erreichte sie ihren Bruder – der hatte gute und schlechte Nachrichten für sie.

Hier können Sie spenden

  • Laut Auswärtigem Amt sind aktuell Geldspenden sinnvoller als Sachspenden, da diese nicht immer gezielt ankommen würden. In Radolfzell hat sich der Alevitische Kulturverein der Spendenaktion seines Dachverbandes angeschlossen. Geld kann an folgendes Konto gespendet werden:
    Volksbank Köln Bonn
    IBAN: DE46 3806 0186 6401 4060 32
    Verwendungszweck: Spende Erdbeben Türkei 2023 / Name / Adresse
  • Am Sonntag, 12. Februar, von 11 bis 18 Uhr öffnet die Gemeinde ihre Türen und bietet Speisen und Getränke an. Der Erlös wird ebenfalls gespendet.
  • Der Türkische Moscheeverein Radolfzell ruft zu Spenden an den Türkischen Roten Halbmond auf. Kontodaten:
    Empfänger: Türkiye Kizilay Dernegi
    IBAN: DE62 5122 0700 1080 0000 01
  • Zudem hat das Restaurant Büfee in der Löwengasse eine Kasse für Geldspenden aufgestellt.
Brutale Zerstörung: Vom Erdbeben eingestürzte Häuser in Adiyaman und Gölbasi, die ein Cousin von Oktay Demir fotografiert hat.
Brutale Zerstörung: Vom Erdbeben eingestürzte Häuser in Adiyaman und Gölbasi, die ein Cousin von Oktay Demir fotografiert hat. | Bild: Demir Abdurrahman

Bislang, erzählt Almalati, habe ihre ganze Familie in einer Wohnung gewohnt – und es nun gerade so herausgeschafft, als die Erde bebte. Noch stehe das Gebäude, doch zurück dürften sie nicht – aus Sicherheitsgründen. Almalatis Eltern und Geschwister würden daher mit deren Kindern auf der Straße ausharren. Nachts hat es in Sanliurfa null Grad Celsius, teilweise schneit und regnet es. Zelte, Decken und andere Hilfen seien noch nicht angekommen. Einmal sei von einem Lastwagen Brot und Suppe verteilt worden. „Gott sei Dank, besser als nichts“, sagt Almalati.

Eltern sind schwer krank – und leben auf der Straße

Doch die Situation ist schrecklich: Almalatis Mutter habe Krebs, doch das Krankenhaus in Sanliurfa ist eingestürzt. Der Bruder sei daher zurück ins von der Polizei versiegelte Haus gegangen, um notwendige Medikamente zu holen. Auch ihr Vater sei krank, ihre Schwester habe kleine Kinder und die Frau ihres Bruders sei schwanger. Das einzige, was ihnen geblieben ist: Ein Auto, in dem sie abwechselnd schlafen.

Es ist nicht das erste Mal, dass ihre Familie aus einem einstürzenden Gebäude flüchten muss – und alles verliert. 2015 fielen Assads Bomben auf das Haus ihrer Eltern in Deir ez-Zor, Almalati und ihre Familie sie in letzter Minute entkommen. Während sie selbst mit Ehemann und Kindern weiter nach Deutschland flüchtete, blieben ihre Eltern in der Türkei. „Aber meine Mutter sagt, es ist jetzt schlimmer als der Krieg“, berichtet sie.

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Doch was macht das alles mit ihr selbst, die Angst, die Ungewissheit, die Machtlosigkeit, im weit entfernten Deutschland nichts tun zu können? „Ich habe gedacht, ich hätte die Bilder und Erinnerungen an meine eigene Flucht damals vergessen“, erklärt Almalati. Durch Bilder vom Ukrainekrieg und dem Erdbeben komme nun aber alles wieder in ihr hoch.

„Wenn ich jetzt vom Erdbeben erzähle, sehe ich vor mir, wie mein Mann und ich vor acht Jahren barfuß aus unserem Haus geflüchtet sind“, erzählt sie stockend. Und nachts könne sie nicht einschlafen – aus Angst, wieder mit schlechten Nachrichten aufzuwachen.

20 Angehörige sind tot oder vermisst

Ebenfalls im Café International ist an diesem Abend Oktay Demir. Er stammt aus der Türkei und lebt seit 1978 in Radolfzell. Seine Familie und die seiner Frau leben verteilt über die betroffenen Regionen: In Pazarcik, dem Zentrum des Bebens, im 50 Kilometer weiter nordöstlich gelegenen Gölbasi, in Adiyaman. „Bei meiner eigenen Familie gibt es keine schlimmen Nachrichten. Aber bei meiner Frau sind 20 Angehörige entweder tot oder noch immer vermisst“, erzählt der 50-Jährige.

Oktay Demir im Cafe International Der 50-Jährige kam 1978 aus der Adiyaman in der Türkei nach Radolfzell.
Oktay Demir im Cafe International Der 50-Jährige kam 1978 aus der Adiyaman in der Türkei nach Radolfzell. | Bild: Mario Wössner

Demir erfuhr während der Nachtschicht von Verwandten vom Erdbeben, rief sofort in der Türkei an. „Aber kein Durchkommen“, sagt er. Die ersten Stunden habe es kaum Informationen gegeben. Dann seien erste Bilder von eingestürzten Häusern bei ihm eingetroffen – jedoch keine Informationen, wer noch lebt und was überhaupt los ist. „Die Ungewissheit war unerträglich, das Schlimmste.“

„Es brennt in meinem Herz“

Nun steht er mit seinen Verwandten in Kontakt. Er und seine Frau hätten jeweils eine Familiengruppe bei WhatsApp, alle zehn Minuten kämen neue Nachrichten. Das sei nicht immer gut, erzählt Demir. Ein Cousin habe das eingestürzte Haus eines Verwandten fotografiert und mit der Nachricht, Gott sei Dank gehe es dennoch allen gut, geschickt. Was er nicht wusste: „Im Stock darunter wohnten Cousins meiner Frau, die sind nun alle verschüttet“, erzählt der 50-Jährige.

Das eingestürzte Haus einer Cousine von Oktay Demir: Unter den Trümmern sind vermutlich noch Vermisste verschüttet.
Das eingestürzte Haus einer Cousine von Oktay Demir: Unter den Trümmern sind vermutlich noch Vermisste verschüttet. | Bild: Demir Abdurrahman

Seine Gefühle angesichts dieser Dinge beschreibt Demir so: „Es brennt in meinem Herz, nichts tun zu können. Ich schäme mich, zu sagen, dass ich friere oder Hunger habe, wenn ich das Leid dort sehe.“

So schnell wie möglich in die Türkei

Oktay Demir, der sein Leben lang schon ehrenamtlich im Einsatz war und gelernter Feuerwehrmann und -sanitäter ist, würde gerne in die Türkei reisen und helfen. „Ich kenne die Region und die Sprache. Ich weiß, wie es ist, mit Toten zu tun zu haben, weil ich mich im Türkischen Moscheeverein um die Überführung von Verstorbenen und Beerdigungen nach islamischer Art kümmere.“ Er habe sich bereits an Feuerwehr, THW und die Stadt gewandt – bislang erfolglos, Privatpersonen dürfen nicht mitfliegen bei Hilfsflügen. „Aber sobald es geht, werde ich in die Türkei reisen“, verspricht er.

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Auch Yassmen Almalati würde am liebsten sofort los – doch nicht zu ihrer eigenen Familie in die Türkei, sondern nach Idlib, der letzten syrischen Stadt, die nicht von Assad kontrolliert wird. Dort gebe es weder Strom und Wasser noch Geräte. Die Menschen würden mit bloßen Händen nach Vermissten graben, habe ihr eine ehemalige Nachbarin berichtet. Mit ihrem türkischen Pass könnte Almalati einreisen.

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Sie erklärt: „Ich weiß, dass meine Familie in der Türkei am Leben ist. Zu ihnen kommt Hilfe. Vielleicht zu spät, aber sie kommt. Aber die Menschen in Idlib haben niemanden mehr. Alle jungen Leute sind seit dem Krieg tot oder geflohen. Ihnen muss ich helfen.“