„In allem was ich mache, bin ich jetzt vorsichtiger“, sagt die heute 20-Jährige, die als Nebenklägerin auftritt, vor Gericht. Sie wurde vor drei Jahren mutmaßlich Opfer einer Vergewaltigung. Mitte September beginnt der Prozess im Konstanzer Amtsgericht. Der Mann, der hier auf der Anklagebank sitzt, ist 58 Jahre alt. Ihm wird vorgeworfen, die damals 17-Jährige im September 2022 spätabends auf einer Wiese vergewaltigt zu haben. Er selbst bestreitet die Vorwürfe.
Die Tat soll sich bei einem Grillfest in der Region ereignet haben. In der Anklageschrift heißt es, der 58-Jährige habe das Opfer mit Tequila abgefüllt und sie anschließend zu einem abgelegenen Platz hinter einem Busch geführt. Dort soll er sie zu Boden gedrückt, sich auf sie gelegt und sie mehrmals geküsst haben. Die 17-Jährige war zu dem Zeitpunkt bereits so betrunken, dass sie nicht mehr in der Lage war, sich zu wehren. Der Angeklagte soll sie anschließend auf der Wiese vergewaltigt haben.
Wie lange die mutmaßliche Vergewaltigung ging, bleibt unklar. Laut der Nebenklägerin stieß sie den 58-Jährigen von sich, als sie ihre Situation realisierte. Da sie im Laufe des Abends, gemeinsam mit dem Angeklagten, bereits viele Gläser Tequila getrunken habe – nachdem die erste Flasche leer war wurde nochmal Nachschub besorgt – könne sie sich an weite Teile nicht mehr erinnern. Wie mehrere Zeugen im Gerichtssaal berichten, fanden andere Festbesucher die 17-Jährige später aufgelöst und weinend in der Nähe des Lagerfeuers. Daraufhin soll sie einer Zeugin die Geschehnisse geschildert haben.
Warum hat niemand etwas getan?
Die Grillparty im Spätsommer vor drei Jahren wurde in einer Facebook-Gruppe für Singles aus der Region organisiert. Der Angeklagte war zu diesem Zeitpunkt Administrator der Chatgruppe und an der Organisation der Feier beteiligt. Das mutmaßliche Opfer war selbst nicht Teil der Gruppe, sondern wurde von Verwandten auf die Feier mitgenommen. Im Zeugenstand erzählten mehrere Anwesende, sie hätten den 58-Jährigen dabei beobachtet, wie er mehrfach mit der mutmaßlich Geschädigten Schnaps trank und beide immer betrunkener wurden.
Etwas dagegen unternommen hat niemand – auch nicht, als sie gesehen haben, wie der Angeklagte mit der sichtlich betrunkenen 17-Jährigen gemeinsam hinter einen Turm bei dem Grillplatz ging. Viele kannten den Angeklagten, manche waren mit ihm befreundet – alle waren Teil der gemeinsamen Facebook-Gruppe. Obwohl alle sich nur über das Internet kannten, nannten manche Gruppenmitglieder den 58-Jährigen zu dem damaligen Zeitpunkt ihren Freund. Richter Nolte merkte daraufhin an, dass er einen solchen Kontakt eher als Bekanntschaft bezeichnen würde. Und doch haben die Anwesenden dem Mann vertraut. Als manche von ihnen ihre Sorgen über den Zustand des Mädchens ausdrückten, sagte er, sie müssten sich keine Sorgen machen, er kümmere sich um sie.
Angeklagter spricht von „konstruierten Vorwürfen“
„Ich war natürlich sprachlos“, antwortet der Angeklagte auf die Frage des Richters, wie er reagierte, als die Vorwürfe aufkamen. Laut dem 58-Jährigen hätten Bekannte der heute 20-jährigen Nebenklägerin auf sie eingewirkt und sie dazu gedrängt, Anzeige zu erstatten. Den Grund dafür könne er sich erklären, führt er vor Gericht aus. Dabei spielt die Facebook-Gruppe, in der das Fest organisiert wurde und der Mann Administrator war, eine wichtige Rolle.
So soll nach der Grillparty der Verwandte des Opfers, der sie auf die Feier mitnahm und Moderator der Facebook-Gruppe war, eine eigene, konkurrierende Gruppe gegründet haben. Damit hätte der Moderator eine ungeschriebene Regel bei Social-Media verletzt. Nach dieser dürfen Teilnehmer einer Gruppe keine konkurrierenden Gruppen gründen, so der Angeklagte. Daraufhin habe der 58-Jährige den Verwandten des mutmaßlichen Opfers blockiert und aus der Gruppe geworfen. Dieser Streit soll dazu geführt haben, dass Mitglieder der neuen Gruppe, darunter der Verwandte der 17-Jährigen, die Vergewaltigungsvorwürfe konstruierten.
Es wirkt fast schon bizarr: Ein scheinbar banaler Streit um konkurrierende Facebook-Gruppen soll dazu geführt haben, dass ehemalige Online-Freundschaften auseinanderbrachen und daraufhin eine Vergewaltigungsgeschichte erfunden wurde. Ob an der Darstellung des Angeklagten etwas dran ist, muss letztendlich das Gericht entscheiden.
58-Jähriger war bereits mehrere Jahre in Haft
Als gegen Ende des Prozesstages Richter Nolte die Vorstrafen des 58-Jährigen verliest, reagieren die Anwesenden – viele von ihnen ehemalige Online-Freunde des Mannes und Besucher der Grillparty – sichtlich schockiert. Bevor er nämlich Administrator der Chatgruppe für Singles wurde, saß er bereits mehrere Jahre im Gefängnis. In den letzten 40 Jahren wurde der Angeklagte in fast 20 Fällen für schuldig befunden – darunter Betrug, Unterschlagung, Bedrohung und Verletzung der Unterhaltspflicht.
Hinter Gittern saß der Mann aber wegen Zuhälterei, Menschenhandel und schwerer Vergewaltigung. Letzteres brachte ihm eine Haftstrafe von sechs Jahren ein. Das Gericht schildert die verstörende Tat: In den 2000er Jahren vergewaltigte der Angeklagte, gemeinsam mit einem Mittäter, eine 26-Jährige auf brutalste Weise, schlug sie mehrfach und verletzte sie dabei am ganzen Körper. 2013 wurde er aus dem Gefängnis entlassen.
Der Prozesstag endet mit der Vernehmung des mutmaßlichen Opfers. Die mittlerweile 20-Jährige erzählt von der hohen psychischen Belastung, die der Abend im September 2022 bei ihr hinterlassen hat. Außerdem halte sie sich von Männern grundsätzlich fern, so die Nebenklägerin in ihrer Aussage. Auf die Frage, wie die Tat sie beeinflusst hat, antwortet sie: „In allem was ich mache, bin ich jetzt vorsichtiger.“