Der freundliche Blick ist der gleiche geblieben. Fast scheint es so, als wolle Josef Jerg immer am Brillenrand vorbei in der Ferne etwas entdecken. Sei es als junger Ministrant oder als Professor im besten Alter. Josef Jerg (65) spürt den Dingen nach, die ihn umgeben. Das hat ihm als Grundschüler eine Kopfnuss eingebracht.
In der Schützentorschule war es verboten, aus dem Fenster im oberen Klassenzimmer auf die Kirchturmuhr des Münsters zu schauen. Jerg hätte die Uhrzeit dort nie erkannt: „Ich hatte schon als Kind viel zu schlechte Augen.“ Der Lehrer hat Josefs Blick falsch gedeutet und abgestraft. „Das empfand ich als extrem ungerecht.“

Gerechtigkeit, das war ein wichtiges Thema in der Familie Jerg. „Bei fünf Kindern taucht immer wieder die Frage auf, was ist gerecht?“ Die Antwort sei für die Eltern stark mit dem kirchlichen Engagement verbunden gewesen. Die Mutter Maria war vor der Heirat Haushälterin im Pfarramt bei ihrem Onkel, Pfarrer Josef Zuber, der Vater Otto Jerg später Mesner der Münsterpfarrei.
Das führte dazu, dass Josef schon als Erstklässler als Ministrant an den Altar gerufen wurde. Er war über Jahre der Dauer-Aushilfs-Messdiener. Fehlte ein Ministrant bei einem Gottesdienst, rief ihn Vater Josef zum Dienst am Altar. Der Weg war nicht weit, nur über den Marktplatz. Nach dem Neubau des Friedrich-Werber-Hauses zog die Familie Jerg dort ein.
Es war nicht diese Dauerpräsenz in der Kirche, es war der Umgang ihrer Repräsentanten mit der Gerechtigkeitsfrage, mit der Freiheitstheologie in Südamerika, mit der Aufarbeitung des Faschismus, der Josef Jerg an der ausgeübten Gerechtigkeit in der katholischen Kirche zweifeln ließ. Gerade in der katholischen Jugendgemeinschaft (KJG) bekam Josef Jerg viele Anregungen, über diese Fragen nachzudenken.
Ihm, dem Hauptschüler, eröffneten etwa die Gymnasiasten und Jungscharleiter Helmut Schlichterle und Manfred Bosch mit ihren Ansichten, mit ihren Thesen, mit ihrer Begeisterung, laut zu denken, neue Horizonte. „Das ergab für mich ganz neue Diskussionen, ganz neue Welten.“ Auf einmal stellten sich ihm die Fragen: „Wer bin ich, was will ich?“
Zur Person und zum Talk-Runde am 10. September
Mit der Länge der Haare kam eine gewisse Aufmüpfigkeit dazu. Nachdem der nach Jergs Empfinden „tolerante und aufgeschlossene“ Vikar Peter Klug Radolfzell verlassen und seine Zuständigkeit für die KJG abgegeben hatte, verlangte Stadtpfarrer Bernd Maurer von der Jungschar wieder fromme Sitten. Das Gebet sollte den Gruppenstunden vorangehen. „Das wollten wir Jungscharleiter nicht, da bin ich aus der Katholischen Jugendgruppe ausgetreten“, berichtet Jerg. Es war ein schwieriges Thema, auch in der Familie. Weil die Kirche und damit der Stadtpfarrer der Arbeitgeber der Eltern war.
Der widerständige Josef
Doch da hatte sich die „Widerständigkeit“ längst bei Josef Jerg ausgebildet. Den Begriff der Widerständigkeit oder des widerständig Seins gebraucht Jerg oft. Familiär habe er diese Fähigkeit von seiner Mutter, die immer einen eigenen Weg für sich gesucht und gefunden habe. Er selbst war für den Reiz der Widerständigkeit empfänglich. Das fing mit den langen Haaren an. „Das ging für ältere Frauen in der Kirche gar nicht, dass ausgerechnet der liebe Josef und Sohn des Mesners mit langen Haaren herumlief“, lacht er heute über die Kämpfe, die sich so oder ähnlich in vielen Familien abspielten.
Erste Schritte in die Welt mit dem JBO
Dabei habe er selbst als Kind und auch noch als Jugendlicher kaum aufbegehrt. „Ich war nicht jemand, der widerständig war.“ Und er war es doch. Musikdirektor Heinrich Braun hat ihm in der Musikschule das Fagott aufgenötigt. „Er hat zu mir gesagt: Damit bist Du der Star! Dabei wollte ich Trompete spielen.“ Gerald Schäuble, der Feuerwehrkommandant, sei sein geduldiger Lehrer gewesen. „Ich kam nicht richtig voran, das Instrument hat mir keinen Spaß gemacht.“
Und doch war das Jugendblasorchester für den jungen Josef eine völlig neue Welt. „Auf einmal ging es nach Schweden, ich bin aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen.“ Doch auch da regte sich seine Widerständigkeit. Vor der Japan-Reise kündigte Jerg beim Jugendblasorchester. Braun habe ihm gedroht, er müsse die Japan-Reise absagen, ohne Fagott. „Ich war der einzige Fagottist.“ Das Jugendblasorchester flog nach Japan, ohne Fagott.
Kein Interesse an einem Krawatten-Job
Auch sonst wich Josef Jerg vom vorgezeichneten Weg ab. Nach der Hauptschule ging er auf die Wirtschaftsschule. Eine Lehre bei der Sparkasse schlug er aus. „Da hätte ich Krawatte tragen müssen.“ Er ging aufs Wirtschaftsgymnasium und traf einen Geschichtslehrer, „der trug auch lange Haare“. Dieser Lehrer arbeitete mit seinen Schülern den Zweiten Weltkrieg und die Greueltaten der Nazis auf. „Darüber konnten wir mit unseren Eltern nicht offen reden.“
Es sei ein Tabu und ein Spannungsverhältnis gewesen. „Das Nichtkommunizierbare dieses Themas war etwas ganz Entscheidendes für unsere Generation, das hat mich enorm begleitet.“ Das Abhängen, Musik hören und machen mit Manne Rapp, das Betreuen von Jugendlichen im Heim mit Wolfgang Kauter waren erste Gegenwelten mit Freunden in Radolfzell. Jerg blickt zurück: „Das Gymnasium hat für mich einen Freiraum gebracht.“
Er hat ihn genutzt. Aus Josef Jerg ist der Professor für inklusive soziale Arbeit und Pädagogik an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg geworden, er leitet den Campus in Reutlingen. Auch diesen Weg hat er seiner Widerständigkeit zu verdanken, oder noch viel mehr seiner Sehnsucht auf neue Welten und der Suche nach Gerechtigkeit. Da lag das Studium der Erziehungswissenschaften nahe. „Jura hätte ich mir auch vorstellen können.“
Aus der Praxis, Freizeiten mit behinderten Menschen und Betreuung von prekären Familien, wuchs er in die eher theoretische Arbeit von Lehre und Forschung hinein. „Ich war glücklich in der Praxisarbeit.“ Er habe gezögert, dann habe er sich bei einem internationalen Austausch in Arezzo von anderen zu diesem Schritt überzeugen lassen. „Ich habe gedacht, ich kann nicht schreiben, ich kann nicht reden. Aber die anderen haben gesagt, du kannst das.“ Er hat sich überzeugen lassen. Das war 1992.

Jerg arbeitete zuerst freiberuflich in Lehre und Forschung zu dem Themenschwerpunkt Inklusion, also Selbstbestimmung und Teilhabe von Kindern und Erwachsenen mit Behinderungserfahrungen. Für ein Bundesprojekt zu Kinderalltag und Lebensqualität, das er wissenschaftlich begleitete, habe er drei Jahre Tag und Nacht gearbeitet. „Weil ich es nicht gewohnt war, zu schreiben und vorzutragen.“ Im Jahr 2000 bekam er die Professur an der Evangelischen Hochschule in Vertretung, kurze Zeit später dann in Vollzeit. Jerg ist heute ein bundesweit anerkannter Experte für das Thema Inklusion.
Der See als Zufluchtsort
Wenn Jo Jerg etwas vermisst an Radolfzell, dann ist es der See. „Die Mettnau, die Mole, das waren Zufluchtsorte, die hätte ich gerne mitgenommen.“ Diese Stadt zu verlassen, war für ihn die einzige Möglichkeit: „Ich wusste, ich musste weggehen, sonst würde ich eingehen.“ An einen Ort, an dem ihn keiner kannte. „Dann kannst du neu starten.“
Ravensburg, Tübingen, Reutlingen sind nicht weit weg, aber es war für ihn eine Befreiung: „Ich konnte mich neu erfinden.“ Man kennt ihn dort nicht als Ministrant, nicht als Fagottist, nicht als Sohn des Mesners. Er hat seinen Vornamen auf Jo verschlankt, studierte, spielte Gitarre, machte Karriere. Er hat eine neue Heimat: „Ich bin jetzt 40 Jahre in Reutlingen, da wachsen Freundschaften und Zugehörigkeit, aber auch die Herausforderung, Neues zu wagen.“