Es gibt keine Generation von Eltern, die so umfassend über Kindererziehung informiert wurde wie die heutige. Diese Elterngeneration hat nicht nur viel an Wissen aus den Fachbüchern aufgeschnappt – in den sozialen Medien begegnen ihr täglich neue Ideen, die sie irgendwie noch umsetzen sollen. Dabei widersprechen sich zum Teil nicht nur die Tipps – es sind derart viele Ratschläge, dass man sie gar nicht umsetzen kann.
Erschwerend kommt hinzu, dass das eigene Familienleben oftmals anders aussieht als in den Bilderbuchfamilien im Fernsehen, in der Werbung oder im Film. Und auf Instagram leben so manche Influencerinnen fast schon leichtfüßig vor, wie einfach alles zu haben ist: Eine schlanke Figur, ein freundlicher Ehemann, ein perfekt eingerichtetes Haus, brav erzogene Kinder, die neuesten Spielzeuge und die besten Fördermöglichkeiten für das Kind. Diese Blaupausen idealer Kindererziehung und Familienlebens erreichen bei Eltern oftmals einen unerwünschten Nebeneffekt: Nachts sitzen sie im Bett und grübeln, was sie alles falsch gemacht haben. Und wie unperfekt doch das eigene Leben ist.
Die Mythen überhöhter Ideale
Diesen Status Quo moderner Erziehung beschrieb die Bestseller-Autorin Nora Imlau vor über 200 Gästen bei einem pädagogischen Themenvortrag des Pestalozzi Kinderdorfs Wahlwies in Kooperation mit der Tegginger Schule im Radolfzeller Milchwerk. Dabei wandte sie sich mit ihrem Vortrag vor allem an Eltern und Pädagogen, die der autoritären Erziehung den Rücken kehrten und auf bindungsorientierte Pädagogik setzen.
Zwar wüssten viele, dass die Bindung zwischen Kindern und Eltern wichtig und prägend für das Leben seien. Doch wie stellt man diese nur her? Und in welche Falle können Eltern dabei treten? Nora Imlau stellte im Milchwerk ihren Familienkompass vor, mit Fixsternen für ein gelingendes Familienleben und eine Kindheit, die die Kinder stark für das Leben machen soll. Diese Fixsterne bezeichnet Imlau: Bindung, Grenzen, Vertrauen. Dabei räumte die Autorin gleich auch mit den Mythen überhöhter Ideale moderner Elternschaft auf.
Kinder müssen fügsam sein?
Eine bedingungslose Sicherheit für die Kinder herzustellen falle vielen Eltern deshalb schwer, weil Erziehung über eine sehr lange Zeit anders funktioniert habe, sagte Imlau in ihrem Vortrag: „Jahrhundertelang war das Hauptziel in der Pädagogik, gehorsame Kinder hervorzubringen. Kinder, die tun was man sagt.“ Das Instrument war die autoritäre Erziehung: „Kinder sollten durch Belohnung und Bestrafung dazu gebracht werden, wie man sie haben wollte: Fügsam. Und als Grundidee galt, dass man ihnen Schmerz zufügt, damit sie zu guten Menschen werden.“
Diese Idee autoritärer Erziehung habe sich über Generationen stark in der Gesellschaft verankert. Doch sie stehe dem Aufbau einer sicheren Bindung konträr gegenüber, sagte Imlau.
Zweifel an der Erziehung
Kinder werden keine Tyrannen, wenn man ihre Bedürfnisse erfüllt, war die Autorin überzeugt: „Und sie tanzen ihren Eltern nicht auf der Nase herum, wenn sie Nein sagen und die Eltern ihnen zuhören wollen“. Doch oftmals werden diese Art von Bemühungen von Drittparteien torpediert: „Wart nur ab, was dabei herauskommt“ oder „nicht mehr lange wird es dauern und das Kind ist der Boss zuhause“.
Komme dann die Erfahrung hinzu, dass das eigene Kind Wutanfälle bekommt und dass es das Gegenteil von dem macht, was man von ihm verlangt, so werden schnell eigene Zweifel ob der eingeschlagenen Pädagogik laut: „Was, wenn die Leute recht hatten und wir das Kind völlig verziehen?“ Der elterliche Zweifel münde dann in einen Strategiewechsel indem nun „andere Saiten aufgezogen werden“.
Wutanfall als Kompliment?
Das Tragische an diesem Kurswechsel sei, dass er genau in die ganz normale Autonomie-Phase fallen würde, bei der Kinder mit Vehemenz auf den eigenen Willen beharren, auch mal Nein sagen oder sogar einen Wutanfall hinlegen und schreien: „Du bist die blödeste Mutter auf der ganzen Welt“. Doch für Imlau ist dieses Verhalten des Kindes kein Zeichen von einem pädagogischen Fehlverhalten. Ganz im Gegenteil. Es sei ein Kompliment. Dieses Verhalten weise nämlich darauf hin, dass sich das Kind „sicher gebunden“ fühle und es keine Angst zeige, die Liebe der Eltern zu verlieren. Mit anderen Worten: Es habe keine Angst vor den Folgen der großen Gefühle in all ihren dunklen Schattierungen.
Für Nora Imlau ist dies ein Zeichen für einen sicheren Hafen. Deshalb würden sich sicher gebundene Kinder zu Hause anders verhalten als an anderen Orten, sagt sie. Das heiße nicht, dass Eltern keine Rückmeldung ob solch eines Verhaltens geben sollten. Vermittle man aber, dass man Gefühle nicht zeigen dürfe, so lernen die Kinder diese zu verstecken, als einen Teil von sich selbst abzulehnen und sich selbst als fehlerhaft anzusehen. Als Erwachsene könnten sie genau deshalb später in Therapie landen, meint Nora Imlau.
Kinder brauchen Rückmeldung
Die Autorin beschrieb letztlich ein normales Verhalten, wobei Kinder und Jugendliche es lieben würden, Grenzen auszuprobieren um herauszufinden, wie weit sie die eigenen Bedürfnisse in das Zentrum stellen können: „Welche Maximalforderungen kann ich stellen? Und wie fühlt es sich eigentlich an wie ein Herrscher zu sein?“ Das seien keine Kinder, die etwas falsch machen, sagte Imlau. Dieses Verhalten seien normale Entwicklungsschritte.
Doch die Kinder bräuchten auch hier Rückmeldung ob der Grenzen ihres Verhaltens. Das aber falle vielen Eltern schwer. Gerade dann, wenn sie auf die autoritäre Erziehung verzichten wollen. Eine bedürfnisorientierte, bindungsstarke Erziehung mit liebevoller Begleitung heiße nicht, dass Kinder die elterlichen Bedürfnisse überschreiten dürften: Die Kinder sehen sich danach Grenzen zu erfahren: „Wo fängst du an? Wo hörst du auf?“ Dazu benötigen Kinder eine Rückmeldung.
Die Gefahr bestehe darin, dass Väter und Mütter, die ihren Eltern gehorchten, nun den Kindern gehorchen würden. Dieses Verhalten resultiere aus deren Erfahrung, wie Liebe funktioniere. Dadurch könne es geschehen, dass Eltern sich dem Willen eines Dreijährigen unterwerfen, anstelle zu sagen, wo die Grenzen liegen. Die Eltern sollten in der Führungsrolle eines Erwachsenen bleiben und eine klare Richtung vorgeben. Damit auch Kinder Schäden beim Überschreiten der Belastungsgrenzen kennenlernen.