Die Zeit der Karolinger gilt als das goldene Zeitalter des Klosters Reichenau. Es war ein Zentrum nicht nur des Glaubens, sondern auch der Politik und Bildung, so der Reichenauer Kulturchef Karl Wehrle. In der Klosterschule wurde der adlige Nachwuchs gelehrt. Und ein herausragender Vertreter des damaligen Klosters war der Mönch und spätere Abt Walahfrid Strabo (gestorben 849). „Er war ein großer Literat der damaligen Zeit“, so Wehrle. Und Walahfrid war der einzige Reichenauer Mönch, der (mit 21 Jahren) von Kaiser Ludwig dem Frommen als Hofpoet nach Aachen geholt wurde, heißt es im neuen Band der Reihe Reichenauer Texte und Bilder (Mattes-Verlag).
Kritik am Kaiser über einen kleinen Umweg
Im Mittelpunkt steht dabei ein Gedicht, das Walahfrid im Jahr 829 am Hof schrieb: „De Imagine Tetrici – Das Standbild des rußigen Dietrich“, so der Titel des Bands. Vordergründig ging es in dem Gedicht um ein Reiterstandbild des Gotenkönigs Theoderich (gestorben 526), das Karl der Große (gestorben 814) von Ravenna in das Aachener Palastareal hatte transportieren lassen.
Doch wie der Autor Professor Tino Licht, ein Experte für mittelalterliche Literatur, erklärt, zeige das Werk nicht nur die außergewöhnliche Sprach- und Literaturbeherrschung Walahfrids, sondern sei auch politisch brisant gewesen. Denn Theoderich wird als düsterer Tyrann gezeichnet, seine Raffgier, sein Hochmut und seine Ausschweifungen werden gegeißelt. Doch der Gotenkönig, der ein Gegner von Papst und Kirche in Rom war, sei offenbar politisch auch ein Vorbild für Karl den Großen gewesen, erklärt der Reichenauer Historiker Gert Zang. Er meint ebenso wie Licht: „Indem man Theoderich kritisiert, kritisiert man Karl.“
Der Kaiser war kein Kind von Traurigkeit
Karl der Große wurde zwar über Jahrhunderte als idealer Herrscher verehrt, aber in der Zeit seines Sohnes und Nachfolgers Ludwig gab es unterschiedliche Meinungen über sein Wirken. Zum einen gab es die alten Anhänger Karls, so Zang, aber auf der anderen Seite die Anhänger der neuen Politik des Sohnes. „Die Situation am Hof war hoch angespannt. Ludwig wollte eine christlichere Politik machen, war eher auf Frieden aus, wollte ein sittlicheres Leben am Hof.“
Von Karl ist bekannt, dass er nebst vier oder fünf Ehefrauen hintereinander auch parallel dazu diverse Verhältnisse und uneheliche Kinder hatte. Und in seinem Palastareal vergnügten sich die Höflinge in Gruppen in Bädern.
Walahfrid hadert mit der lockeren Moral am Hofe
Licht meint, Walahfrid habe sich in dem Gedicht natürlich an die am Hof vorherrschende Meinung halten müssen. Doch moralische Kritik an Karl hatte er schon in seinem Erstlingswerk Visio Wettini 825 geübt, so Zang. Der Mönch Wetti bekommt darin von einem Engel in der Hölle gezeigt, wie die dorthin Verbannten bestraft werden.
Darunter ist auch ein einstiger König von Italien, der für sein lasterhaftes Leben entmannt wird. Und damit sei Karl gemeint gewesen, so Zang. Ohne den Namen zu nennen, hatte Walahfrid dessen Herrschaft zwar zunächst gewürdigt, schließlich war Karl auch ein großer Förderer des Reichenauer Klosters gewesen, aber die schändliche Wollust habe die guten Taten besudelt.