Der Donnerstag vor dem Aschermittwoch ist der Hochtag in der schwäbisch-alemannischen Fasnet. Vor 75 Jahren wäre es am 8. Februar soweit gewesen. Doch in diesen Tagen des Jahres 1945 hat auf die Fasnet im Hegau kaum jemand gewartet – auf die Fastenzeit noch weniger. Fasten war das tägliche Brot der Menschen – auch an jenem 8. Februar, der eigentlich ein Schmotziger Dunschtig gewesen wäre.

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Fasnacht war nicht angesagt

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 war auch folgenreich für die Fasnacht: Narrenvereinigungen mussten der Reichskulturkammer beitreten und die Nationalsozialisten sorgten schnell dafür, dem Treiben einen heidnisch-mythischen Hintergrund zu verpassen. Spätestens mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Tätigkeit der Narrenzünfte gänzlich eingestellt. Ab 1940 fanden auch im Hegau keine Fasnachtsveranstaltungen mehr statt, wie Poppele-Archivar Reinhard Kornmayer mit einem Blick in die Chronik schnell feststellen konnte.

Luftschutzübungen vor dem Kriegsende in Singen: Fahrradfahrer mit Gasmaske vor dem alten Singener Schloss, in dem heute das Hegaumuseum ...
Luftschutzübungen vor dem Kriegsende in Singen: Fahrradfahrer mit Gasmaske vor dem alten Singener Schloss, in dem heute das Hegaumuseum untergebracht ist. | Bild: Stadtarchiv Singen

Regelmäßige Luftschutzübungen

Da war eher die Angst vor weiteren Fliegerangriffen verbreitet, statt Fasnachtshäs wurden Gasmasken getragen – zumindest bei den regelmäßigen Luftschutzübungen. Tag und Nacht mussten sich die Menschen verstecken – wahlweise vor Freund und Feind, wobei längst nicht mehr klar war, wer Freund war und wer Feind. Auf der einen Seite waren es die Angriffe der gegnerischen Tiefflieger. An manchen Tagen gab es mehrmals Fliegeralarm und wenn die Sirenen heulten, schnappten Mütter ihre Kinder und suchten entweder die Luftschutzbunker auf oder flüchteten in die Wälder um die Stadt.

Hunger auf den Frieden

Die Versorgungslage verschlechterte sich ständig. Die Menschen waren Hunger und Elend leid. Im ganzen Reich wurden die Lebensmittelrationen gekürzt und die Produktion des Singener Maggiwerks ging zu hundert Prozent an die Wehrmacht, wie die Schweizer Historikerin Brigitte Matern in einem Beitrag der Wochenzeitung (WOZ) über die Mitwirkung der Schweizer Betriebe am deutschen Krieg vor einigen Jahren recherchiert hat.

Die Versorgungslage war katastrophal und wer etwas zu Essen wollte, musste mit langen Schlangen rechnen.
Die Versorgungslage war katastrophal und wer etwas zu Essen wollte, musste mit langen Schlangen rechnen. | Bild: Stadtarchiv Singen

„Die Versorgungslage war natürlich katastrophal, mit den an die Bevölkerung ausgeteilten Lebensmittelmarken konnte gerade das Allernotwendigste gekauft werden“, erinnert sich Wilhelm Waibel. Der Singener Ehrenbürger und engagierte Historiker war damals elf Jahre alt. Der Hunger jener Jahre hat sich in seinen Erinnerungen fest gefressen, nicht nur ans Frühstück hat er scheußliche Erinnerungen: „Eine aus Mais hergestellte und für mich unangenehm schmeckende Nahrung, die ich ungern nochmal probieren möchte.“ Durch Schlangestehen am Schlachthaus habe man an bestimmten Tagen Zusätzliches kaufen können: Vor allem Innereien. Noch schlimmer war es in den Lagern der Zwangsarbeiter, die verschleppt wurden, um die industrielle Kriegsproduktion aufrecht zu erhalten. „Es wurde alles gegessen, was gefunden wurde, sogar Gras“, zitiert Matern die 1943 nach Singen verschleppte Ukrainerin Serafina Kusmiwna Skorobatsch.

Auch die Produktion von Prothesen nach dem von Professor Sauerbruch entwickelten Schema wurde in den letzten Kriegsmonaten immer ...
Auch die Produktion von Prothesen nach dem von Professor Sauerbruch entwickelten Schema wurde in den letzten Kriegsmonaten immer bedeutender – hier ein Bild aus den Werkstätten in Singen. | Bild: Stadtarchiv Singen

Froh war, wer einen eigenen Garten hatte und so frisches Gemüse und Salat ernten konnte. „In der Schule gab es Schülerspeisung in Form von Suppe, und zu diesem Zweck hatten alle Schüler Essbesteck und eine kleine Suppenschüssel zusätzlich zum Schulranzen dabei.“ An regelmäßigen Schulbesuch war aber längst nicht mehr zu denken: Immer wieder gab es Ausfälle durch Fliegeralarm und Fliegerangriffe. Zudem mussten die Schüler oft in andere Schulgebäude umziehen, weil die ursprünglich einmal benutzte Schule zum Lazarett für verwundete deutsche Soldaten umgebaut wurde.

Immer wichtiger wurde in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs die Versorgung Verwundeter. Schulen wurden zu Lazaretten umfunktioniert.
Immer wichtiger wurde in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs die Versorgung Verwundeter. Schulen wurden zu Lazaretten umfunktioniert. | Bild: Stadtarchiv Singen

Das Leben war von Verzicht und Durchhalteparolen geprägt – auch wenn letztere kaum noch auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Alte und Buben, Frauen und Mädchen wurden zum Volkssturm gerufen. „Selbst mein Vater wurde in den letzten Kriegstagen noch zum Volksturm eingezogen und wir hatten große Angst, dass ihm dabei irgendetwas passieren könnte“, so Waibel.

Die Scheffelhalle im Jahr 1925: Sogar den Zweiten Weltkrieg hat das als Provisorium errichtete Gebäude überstanden. In der Nacht zu ...
Die Scheffelhalle im Jahr 1925: Sogar den Zweiten Weltkrieg hat das als Provisorium errichtete Gebäude überstanden. In der Nacht zu Dienstag ist es abgebrannt. | Bild: Stadtarchiv Singen

Das Radio unter der Decke

Die Menschen im Hegau waren kriegsmüde – durch und durch. Nicht der Endsieg, aber das Ende des Krieges lag in jenem Frühjahr, trotz der bleibenden Präsenz der Nazis, in ahnbarer Nähe. Truppen der Waffen-SS aus Radolfzell achteten argwöhnisch auf Volk und Moral, um der allgemeinen Kriegsmüdigkeit entgegen zu treten. „In Zeitung und Rundfunk wurde über die großen Siege berichtet, das Kriegsende wurde dabei nicht in Betracht gezogen“, beschreibt Waibel. Doch unter dem Deckmantel dicker Teppiche lauschten die Hegauer auch ganz anderen Signalen, wie Dieter Fleischmann als Zeitzeuge berichtet: Die Franzosen standen am Rhein und die Frontlinie war längst dahin.

„Wer unabhängige Informationen zum Kriegsgeschehen haben wollte, hörte den Schweizer Sender Beromünster ab, versteckt unter einem ...
„Wer unabhängige Informationen zum Kriegsgeschehen haben wollte, hörte den Schweizer Sender Beromünster ab, versteckt unter einem dicken Teppich, damit es niemand mitbekommen konnte.“Dieter Fleischmann, Zeitzeuge | Bild: Christel Rossner

Dass der Zweite Weltkrieg für die Deutschen verloren war, konnten sich die meisten ausrechnen. Auch in Singen und dem Hegau. Fleischmann erinnert sich wie Vater und Großvater sich unter dem Teppich drängten, um die Nachrichten des Schweizer Senders Radio Beromünsters abzuhören. Denn es musste geheim bleiben, wenn man freitags aus Salis‘ regelmäßiger Sendung „Weltchronik“ im feindlichen Rundfunk den Lauf der Dinge abhörte. Wer erwischt wurde, musste mit dem Schlimmsten rechnen: Solch Verhalten stand unter drastischer Strafe.

Gefährliche Konspiration

Andere haben sich auf die Ankunft der alliierten Truppen vorbereitet. Ungeachtet aller Durchhalteparolen bestand eine wichtige Aufgabe der Bevölkerung, die kampflose Übergabe des eigenen Ortes vorzubereiten. Weiße Fahnen wurden im Geheimen genäht, Pläne konspirativ geschmiedet, um das Schließen der längst angelegten Panzersperren zu verhindern und nach außen die gar nicht mehr heile, nationalsozialistische Fassade gewahrt, um ja nicht kurz vor Kriegsende als Verräter hingerichtet zu werden. Dieses Schicksal drohte bis zum letzten Kriegstag, wie die Geschichte zeigen sollte.