Frau Zwiebel, Diskretion ist im Frauenhaus nicht nur oberste Priorität, sondern für manche Hilfesuchenden überlebensnotwendig. Sicherlich ist es eine Gratwanderung zwischen Anonymität und Öffentlichkeitsarbeit.
Ja, einerseits ist es unser Ziel, dass der Standort des Frauenhauses geheim bleibt, daher ist und bleibt die Adresse anonym. Andererseits haben wir über unsere Beratungsstelle die Möglichkeit, unsere Hilfsangebote zu publizieren. Hier veröffentlichen wir unseren Kontakt mit Telefonnummer und Adresse und können unseren Hilfsangeboten damit ein Gesicht geben.
Was passiert, wenn Frauen, die vor ihren Männern flüchten, zu Ihnen Kontakt aufnehmen? Wie ist das Prozedere?
Zunächst klären wir anhand eines Risiko-Screenings ab, ob die Frau bei uns in Singen sicher ist, wie also die tatsächliche Bedrohungslage aussieht. Je nach Ergebnis und ob wir Platz haben, prüfen wir, ob wir sie in Singen aufnehmen können. Wir vereinbaren einen Treffpunkt an einem anonymen, öffentlichen Ort, wo wir die Frau und gegebenenfalls ihre Kinder abholen und in das Frauenhaus bringen.
Wie viele Frauen können Sie in Singen aufnehmen?
Wir haben Platz für insgesamt zehn Frauen und Kinder. Je Frau, beziehungsweise Familie, vergeben wir ein eigenes Zimmer und die Küche und das Bad werden mit zwei anderen Bewohnerinnen geteilt.
Wie geht es dann weiter?
Zunächst geht es darum, die Frau zu stabilisieren, dafür zu sorgen, dass sie zur Ruhe kommt. Je nach vorangegangener Schwere der Gewalt ist das oft schwierig. Dann prüfen wir, was sie braucht und versorgen sie entsprechend mit Kleidung aus unserer Kleiderkammer sowie mit Lebensmitteln. Wir prüfen, hat sie Verletzungen, benötigt sie medizinische oder psychologische Unterstützung? Das Gleiche gilt für ihre Kinder. Liegt zudem ein Trauma vor, haben wir sogar die Möglichkeit, einen Gesundheitsclown mit ins Boot zu holen, eine speziell ausgebildete Person, der der Zugang leichter gelingt. Uns geht es darum, dass wir Hilfesuchenden Schritt für Schritt in ein selbstständiges Leben begleiten. Unser Grundsatz ist die Hilfe zur Selbsthilfe. Dabei unterstützen wir sie beim Ausfüllen von Anträgen, bei Besuchen im Jobcenter und dem Jugendamt, versuchen einen Kindergartenplatz oder eine Schule für die Kinder zu finden sowie Wohnraum.
Geben Männer Vermisstenanzeigen auf, um ihre Frau zu finden?
In der Tat, das passiert häufig. Manche Männer zeigen ihre Frau auch wegen Kindesentführung an. Deshalb informieren wir die Polizei und das Jugendamt über den Verbleib der Frauen und Kinder.
Ich kann mir vorstellen, dass eine Flucht oft nach einem Gewaltakt und damit spontan stattfindet. Wie sieht die finanzielle Situation der Frauen aus?
Viele kommen mit wenig Geld und wir klären dann gemeinsam, ob sie Zugang zu ihrem Konto haben und entziehen dem Mann dann auch eine bestehende Bankvollmacht.

Wie lange bleiben die Frauen in der Regel in Ihrer Obhut?
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, beispielsweise von der Wohnungssuche oder davon wie verfolgend der Mann ist und das stellt sich manchmal erst nach ein paar Monaten heraus. Dann merken viele Männer erst, dass es jetzt ernst ist und ihre Frau nicht zurückkommt. Durchschnittlich sind die Frauen zwischen drei und vier Monaten bei uns.
Jede vierte Frau wird laut Sozialministerium Baden-Württemberg zufolge in ihrem Leben Opfer von Gewalt durch den Partner. Eine unfassbar hohe Zahl! Ich nehme an, das bezieht sich sowohl auf körperliche Gewalt als auch psychische Gewalt, die oft noch subtiler ist?
Ja, auf jeden Fall. Wobei in der Regel die eine Form von Gewalt mit der anderen einhergeht. Körperliche Gewalt ist direkt spürbar und ja, psychische ist meist subtiler. Es gibt Männer, die nur psychische Gewalt ausüben, da baut sich der Druck und die Angst der Frauen größtenteils langsamer auf und es dauert länger, bis es eskaliert und sie aus der Situation herausgehen.
Lassen Sie uns über das Thema Femizid sprechen, die geschlechterbezogene Gewalt gegen Frauen, die vorsätzliche Tötung. In welche Richtung entwickeln sich die Zahlen?
Es ist erschreckend, aber laut Kriminalstatistik ist die Zahl in Baden-Württemberg im letzten Jahr um 25 Prozent gestiegen. Und das zeichnet sich auch in unserer Region ab.
Was ist der Grund dafür?
Das ist schwer zu sagen. Einerseits leben hier zunehmend Menschen mit Kriegs- und Tötungserfahrung, andererseits nimmt generell der Respekt vor Obrigkeit ab. Das sieht man unter anderem an der Anzahl steigender Übergriffe auf Institutionen, wie die Polizei, Sanitäter oder Feuerwehr. Die Zusammenhänge sind jedoch unklar.
Am 22. November wird zu diesem Thema eine Lesung stattfinden. Die Journalistin und Autorin Carolin Haentjes wird aus ihrem Buch „Femizide: Frauenmorde in Deutschland“ lesen. Wie kam es zu der Idee zu dieser Veranstaltung?
Ich kenne das Buch und fand das sehr gut recherchiert. Für das Buch haben Julia Cruschwitz und Carolin Haentjes Erkenntnisse der Wissenschaft, Kriminologie, Polizei, Sozialarbeit und von Anwälten einbezogen. Sie haben mit Überlebenden, Zeugen und Angehörigen gesprochen und das Thema Femizid aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.
Auch aus der Täterperspektive?
Ja, sie haben zumindest den Background von Tätern kritisch mit eingebunden sowie die Handhabung im Strafrecht, wo eine Biografie, eine Affekthandlung oder Sätze wie: „die Frau hat den Mann provoziert“ strafmildernd wirken. Der Juristinnenbund hat sich dafür starkgemacht, dass es Änderung des Blickwinkels gibt. Das ist ein weit umfassendes Thema auf das wir mit der Lesung aufmerksam machen möchten.