Es war eine Tat, die nicht nur die Mitarbeiterinnen des Singener Frauenhauses schockierte: Ende Oktober 2022 erschießt ein 54-jähriger Chemnitzer Restaurantbesitzer seine Ehefrau in Heide (Schleswig-Holstein) auf offener Straße. Zuvor war sie mit ihrem Sohn aus Singen dorthin geflohen. Wie konnte er sie finden? In Singen, dann an der Nordsee?

Im Prozess gegen den mittlerweile 55-Jährigen, der seit Ende April vor dem Landgericht Itzehoe stattfindet, kommen immer mehr Details ans Licht. Jetzt hat ein Zeuge ausgesagt – nämlich der 33-Jährige, der den mutmaßlichen Mörder und Vergewaltiger von Chemnitz aus nach Heide gefahren haben soll. Gegen ihn wurde kurzzeitig ebenfalls ermittelt – doch die Polizei konnte keine Anhaltspunkte für den Verdacht auf Beihilfe finden.

Offenbar befanden sich die zwei Männer bereits Tage vor der Tat in der Kleinstadt. Und beschatteten das spätere Opfer und ihren Sohn.

Dies berichteten Journalisten der Dithmarscher Landeszeitung, die den Prozess vor Ort begleitet und mit dem der SÜDKURIER kooperiert.

„Angeheuert wie ein Detektiv“

Im Zeugenstand stellte sich der 33-jährige Chemnitzer als naher Bekannter der Familie vor. Von Tötungsabsichten will er nichts gewusst haben. „Der Angeklagte hatte mich gebeten, mit ihm nach Heide zu fahren, um seine Frau ausfindig zu machen. Er hat mich praktisch wie eine Art Detektiv angeheuert. Ich sollte dabei helfen, sie und den gemeinsamen Sohn zurück zu holen.“

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Etwa acht Stunden dauerte die Fahrt. Während der soll der 55-Jährige laut dem Zeugen mitgenommen gewirkt haben, „fast gebrochen“. Er soll gesagt haben, dass seine Frau fremdgehe mit einem ehemaligen Mitarbeiter. „Wir wollten sie mit ihrem Liebhaber auf frischer Tat ertappen, was aber nicht gelungen ist. Ihn bekamen wir nicht zu Gesicht.“

Täglich beobachtet – bis zum Tattag

In Heide angekommen, habe er mit dem Angeklagten den genauen Wohnort der Frau ausfindig gemacht und sie mehrere Tage lang beobachtet.

„Wir haben sie in Heide täglich mindestens einmal gesehen, meistens auf dem Weg in die Innenstadt und zurück“, so der 33-Jährige. Das Ziel der beiden Männer sei es gewesen, die Frau zur Rede zu stellen.

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Den Tag, an dem der Familienvater die eigene Frau vor den Augen des gemeinsamen 13-Jährigen Sohnes erschossen haben soll, beschreibt er so: Sie warteten im Auto vor dem Wohnhaus von Mutter und Sohn. Der Angeklagte auf dem Beifahrersitz. Schließlich erblickten sie die zwei – sie waren zu Fuß, liefen den Gehweg entlang, direkt auf das Auto zu.

Schon in Singen aufgespürt

Bereits in Singen hatte der gebürtige Aserbaidschaner seine Frau aufgespürt. Wie Mitarbeiterinnen des Singener Frauenhauses dem SÜDKURIER berichtet hatten, habe er plötzlich in der Innenstadt vor der 37-Jährigen gestanden. Außerdem sei er vorm Frauenhaus mit einem Strauß Blumen aufgetaucht.

Über das Gespräch in der Singener Innenstadt, vor dem Nordsee-Restaurant, äußerte sich der Angeklagte selbst vor Gericht. „Wenn es einen anderen Mann gibt, werde ich ihn töten“, will er dort gesagt haben. Auf die Frage seiner Frau – „Wirst du auch mich töten?“ – habe er geantwortet: „Nein, ich würde ihn umbringen.“ Seine Frau habe dann gesagt, es gebe keinen anderen Mann: „Ich brauche niemanden und dich auch nicht.“

Wie konnte er sie finden?

Auch dazu gab der mutmaßliche Täter Auskunft: Offenbar hatte seine Ehefrau sich in einem Chatroom mit anderen russischen Frauen aufgehalten. Sie habe von ihrer Flucht berichtete und um Ratschläge gebeten. Was sie nicht ahnte: Ihr Mann hatte sich über eine der anderen Frauen die Zugangsdaten für diesen Chat besorgt und las mit. All das wertet er offenbar nicht als Spionage. Er beteuerte: „Ich habe meine Frau nie ausspioniert!“

Im Chat mit den russischen Frauen habe er verfolgt, wie sie über ihn „spottete“ und dass sie ihn „zur Strecke bringen“ wolle. Alles eine Verschwörung – diese These hatte der Angeklagte bereits im Eröffnungsplädoyer vor Gericht verkündet.

„Plötzlich hatte er eine Pistole in der Hand“

Und dann stand sie vor ihm in Heide.

Der Zeuge, der den mutmaßlichen Mörder nach Heide gefahren hatte, erinnert sich so an den Moment: „Plötzlich hatte er eine Schusswaffe in der Hand, die ich in diesem Moment zum ersten Mal sah. Ich wusste nicht, dass er überhaupt eine bei sich trug. Er stieg aus und wies mich an, umgehend ohne ihn nach Chemnitz zurückzufahren. Vorher möge ich noch seinen Koffer verschwinden lassen. Ich war überfordert, wie im Schock, und bin nur einige Meter gefahren, dann wieder stehengeblieben.“

Nur wenige Sekunden später habe er den Knall gehört. „Dann kam der Ehemann ans Auto zurück. Mehr als eine Minute hat das alles nicht gedauert.“

„Wenn er mich findet, bringt er mich um“

Zur Tat selbst wurden bereits mehrere Augenzeugen gehört, auch der 13-jährige Sohn. Alle gaben an, dass der Mann auf die Frau gezielt habe. Eine Zeugin sagte aus, dass das Opfer um sein Leben gefürchtet habe. „Sie hat immer wiederholt: Wenn mein Mann mich findet, bringt er mich um.“

Der 55-Jährige selbst hingegen beschreibt die Tat vor Gericht als Unfall: Die Waffe hätte er dabei gehabt, „um Eindruck zu schinden“. Zudem habe er Fotos von einem möglichen Nebenbuhler machen und diesen danach verprügeln wollen.

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Er habe die Pistole nicht auf sie gerichtet. Auf der offenen Handfläche habe er ihr die Waffe gereicht, der Lauf habe zur Seite gezeigt. Er habe seiner Frau vorgeworfen, Schande über die Familie gebracht zu haben und dann zu ihr gesagt: „Du kommst mit nach Hause oder du bringst mich um.“ Dem Sohn habe er noch sagen wollen, es sei nur eine Spielzeugpistole, er brauche keine Angst zu haben.

Plötzlich, so der Angeklagte, habe er gemerkt, dass die Pistole abrutsche. Er habe die fallende Waffe geschnappt, ein Schuss habe sich gelöst. „Als ich den Kopf hob, habe ich meine Frau liegen sehen.“

Auf die Frage, ob die Schussbahn noch plausibel erscheint, wenn die Ausführungen des Angeklagten zugrunde gelegt werden, sagte ein Sachverständiger vor Gericht: „Das ist eine extreme Annahme, zu der ich mich nicht spontan äußern will.“

Nach der Tat: „Wir saßen schweigend im Wagen“

Wie der Fahrer des Schützen erzählt, sei der sofort zum Wagen zurück und habe ihn gebeten, ihn zum Polizeirevier zu fahren. „Wir saßen schweigend im Wagen.“