Was ist wirklich passiert am 31. Oktober 2022, als eine 37-Jährige Mutter auf offener Straße erschossen wurde – vor den Augen ihres Sohnes? Der mutmaßliche Täter ist der getrennt lebende Ehemann und Vater des 13-jährigen Jungen. Er muss sich seit Ende April wegen Mordes und Vergewaltigung vor Gericht verantworten. Am vierten Prozesstag haben Zeugen die Tat aus ihrer Perspektive geschildert.

Statt findet der Prozess vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Itzehoe in Schleswig-Holstein. In der nahen Kleinstadt Heide lebten Mutter und Sohn zuletzt. Zuvor waren sie offenbar durch ganz Deutschland geflüchtet. Von Chemnitz aus ins dortige Frauenhaus, dann nach Singen ins Frauenhaus. Dort wollten sie ein neues Leben beginnen, wie Frauenhausleiterin Claudia Zwiebel dem SÜDKURIER berichtete. Der Sohn ging zur Schule, erste Freundschaften seien entstanden. Doch während eines Einkaufsbummels in Singen soll, so sagte Zwiebel im Januar, der 54-Jährige Ehemann plötzlich aufgetaucht sein. Das Frauenhaus half, die kleine Familie an die Nordsee zu bringen. Im Landkreis Dithmarschen lebten sie versteckt bis 31. Oktober 2022. Bis die 37-Jährige während eines Spaziergangs mit ihrem Sohn von dem 54-Jährigen erschossen wurde. Er bestritt die Tat nicht, als er zu Prozessbeginn aussagte.

Was passierte an diesem Tag?

Zwischen der Darstellung des mutmaßlichen Täters und dem, was die Zeuginnen am vierten Verhandlungstag zu Protokoll gaben, bestehen erhebliche Unterschiede. Die Dithmarscher Landeszeitung, mit der der SÜDKURIER für die Berichterstattung zu diesem Prozess kooperiert, verfolgte die Befragungen vor Ort. Vernommen wurden zwei Frauen und ein Rettungssanitäter.

Das könnte Sie auch interessieren

Augenzeugin: Opfer „stand da wie angewurzelt“

Eine von ihnen wurde Augenzeugin der Tat. Sie habe in dem Moment aus einem Fenster im ersten Stock geschaut, „als der Schuss gefallen ist“, sagte die Frau. Zuvor habe sie Stimmen gehört und gesehen, wie das spätere Opfer vor ihrem Haus stehen geblieben sei – mit dem Rücken zum Gebäude – und sich ein Mann näherte: „Er kam an, sie blieb stehen, und er stellte sich ihr unmittelbar gegenüber und hatte die Pistole in der Hand.“ Dann habe er abgedrückt.

„Ich konnte den Mann von vorne sehen“, so die Zeugin. Die Frau auf dem Bürgersteig „stand da wie angewurzelt“. Der Schütze, „schwarze Hose, schwarze Jacke, schwarzes Käppi und schmale Statur“, zeigte ein starres Gesicht und „verzog beim Schuss keine Miene“. Der Schütze habe sich „ganz normal“ vom Tatort entfernt: „Als wenn er spazieren ginge.“ Sie sei zu ihrem Mann gerannt, um einen Rettungswagen zu rufen. Als sie wieder nach vorne gegangen sei, habe das Opfer auf dem Gehweg in einer Blutlache gelegen und ein Junge sei mit dem Ausruf „Mein Vater, mein Vater“ über die Straße gegangen.

Angeklagter: „Ein tragischer Unfall“

Zu Prozessbeginn hatte der mutmaßliche Täter selbst ein erstes Statement abgegeben – und von einem tragischen Unfall gesprochen. Einer seiner beiden Anwälte hatte die Theorie ins Spiel gebracht, dass sich versehentlich ein Schuss gelöst haben könnte.

Das könnte Sie auch interessieren

Eine Bewohnerin eines in der Nähe des Tatortes befindlichen Wohnhauses war die Erste, die sich um die tödlich verletzte 37-Jährige gekümmert hat. „Ich hörte ein Geräusch, das mir fremd war“, schilderte die Frau im Zeugenstand. Es habe sich angehört, „wie wenn ein Vogel gegen eine Scheibe fliegt“. Das Geräusch sei aus Richtung der Straße gekommen und für sie der Anlass gewesen, in das der Straße zugewandte Zimmer zu gehen und aus dem Fenster zu schauen: „Da lag eine Person auf dem Bürgersteig“. Zwei Jugendliche seien vorbeigekommen. „Eine Person machte eine Trittbewegung“ in Richtung des leblosen Körpers, „dann sind beide weggelaufen – ganz, ganz schnell“.

Sie selber sei „rausgelaufen mit dem Telefon am Ohr“, um Polizei und Rettungsdienst zu alarmieren. Beim Opfer angekommen, habe sie gesehen, „dass Blut aus ihrem Mund schoss“. Zu irgendwelchen Begebenheiten im Umfeld des Tatortes konnte die Zeugin vor Gericht nichts sagen: „Ich habe auf nichts weiter geachtet, ich hatte nur die Frau im Blick.“ Mit einem ebenfalls zur Hilfe eilenden Mann habe sie die angeschossene Frau in die stabile Seitenlage gebracht: „Dann kam die Polizei.“

Das könnte Sie auch interessieren

Sohn offenbart sich Rettungssanitäter

Während Ärzte und Rettungssanitäter auf dem Gehweg um das Leben der Frau kämpften, kümmerte sich einer der Notfallsanitäter um den 13-jährigen Jungen, der die Tat mit ansehen musste. Als er mit dem Rettungswagen ankam, „stand der Junge hinter einem Polizeiwagen, der die Sicht auf das Szenario verdeckt hat“, schilderte der als Zeuge vernommene Sanitäter vor Gericht. Mit leerem Blick habe der Jugendliche in die Ferne gestarrt und sich nach dem Zustand seiner Mutter erkundigt. „Dem Sohn war der Zustand klar“, so der Zeuge. Mit dem Rettungswagen sei der 13-Jährige dann zur weiteren Betreuung ins Westküstenklinikum gebracht worden. Auf der Fahrt habe der Jugendliche die schwierige familiäre Situation geschildert. Mutter und Sohn seien regelmäßig geschlagen worden. „Das war Teil seines Aufwachens“, so der Rettungssanitäter. Bezüglich seines Vaters habe der 13-Jährige gesagt, dieser sei „komplett wahnsinnig und verrückt“.