Eva Marie Stegmann und Dieter Höfer (DL)

Der 13-Jährige hat seit März 2022 ein Leben auf der Flucht geführt. Immer wieder mussten er und seine Mutter neu anfangen. Chemnitz, Singen, Heide. Stets wissend, dass es sofort wieder soweit sein könnte: Tasche packen, überhastet aufbrechen. Nur weg von ihm, dem eigenen Vater, der die Mutter zurückwill – oder sie zu töten droht.

Der Vater muss sich seit Ende April wegen Mord und Vergewaltigung vor dem Landgericht Itzehoe (in der Nähe von Heide) verantworten.

Am zweiten Prozesstag sagte der 13-Jährige aus. Der Junge aus Chemnitz musste nicht persönlich erscheinen, stattdessen wurde im Saal eine bereits Ende 2022 entstandenen Vernehmung abgespielt. Darin schilderte der Halbwaise die letzten Monate mit seiner Mutter.

Die Zeit, bis sein Vater die 37-Jährige fand und mit einer Neun-Millimeter-Pistole auf offener Straße erschoss.

„Ich möchte eine Aussage machen“

Eineinhalb Stunden lang dauerte die Vernehmung laut Dieter Höfer von der Dithmarscher Landeszeitung (DL), der vor Ort die Aufzeichnung angesehen hat und mit dem der SÜDKURIER für den Prozess kooperiert.

Die Tötung seiner Mutter am 31. Oktober 2022 hat der Junge mit angesehen, musste wegen eines Schocks ins Krankenhaus. Noch heute, sagt er, hat er Angst, dass sein Vater auch ihn töten werde. Doch er sei auch wütend.

„Ich möchte eine Aussage machen“, lauten seine Worte in dem Vernehmungsvideo, als er darauf hingewiesen wird, dass er den eigenen Vater nicht belasten müsse.

Sohn: Vater ging nach Tat einfach

Er schildert den Angriff auf seine Mutter: Die beiden seien zu Fuß in Heide unterwegs gewesen, als unvermittelt ein Auto gehalten habe. Ein Mann sei ausgestiegen, erst habe er seinen Vater nicht erkannt. Dann schon.

Der habe „etwas von einem Mann namens Roman“ gesagt und etwa zehn bis zwölf Sekunden später geschossen. Im Anschluss habe er sich eine Kapuze aufgesetzt und sei einfach gegangen.

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Könnte der Name Roman ein Hinweis auf den vom Beschuldigten vermuteten Nebenbuhler sein? Der Angeklagte selbst hatte seine Fahrt nach Heide am ersten Prozesstag als Versuch dargestellt, die Familie wieder zu vereinen.

Bei Anblick der Waffe wie erstarrt

„Ich habe gesehen, dass mein Vater in Richtung Gesicht gezielt hat“, sagt der Junge in der Videoaufzeichnung. Den Abstand zwischen der am ausgestreckten Arm gehaltenen Pistole und dem Opfer beziffert er auf etwa einen halben Meter. Seine Mutter sei bei dem Anblick der Waffe wie erstarrt gewesen und habe diese weder abgewehrt noch berührt.

Diese Aussage spricht gegen die Version der Verteidigung des Angeklagten, dass die Frau den Schuss selbst ausgelöst haben könnte, als sie nach der Pistole geschlagen oder gegriffen habe.

Sohn: Vater schlug ihn und Mutter

Wie konnte es dazu kommen? War der Vater aus Eifersucht von Sinnen, war es ein Unfall – oder geplant?

Der Junge beschreibt den Angeklagten als einen Mann, der seine Familie mit Gewalt – verbaler wie körperlicher – dominierte.

2016 sei die Familie in die sächsische Stadt Chemnitz gezogen. „Zuerst war alles ok, dann wurde der Vater strenger.“ Für Beschimpfungen und Schläge des gebürtigen Aserbaidschaners habe es ausgereicht, dass seine Frau eine Jeanshose trug.

Anfangs habe sein Vater nur die Mutter geschlagen, dann auch ihn. Schon einmal sei eine Ehe in Aserbaidschan wegen der Gewalttätigkeit des Vaters zerbrochen.

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Offenbar eskalierte die Gewalt, kurz bevor Mutter und Sohn im März flohen. Der 13-Jährige erinnert sich, dass seine Mutter eine Kopfverletzung mit „vielen blauen Flecken“ gehabt habe.

Die Flucht: Chemnitz, Singen, Heide

Zunächst seien sie bei Freunden untergekommen, dann im Chemnitzer Frauenhaus und anschließend im Singener Frauenhaus. Dort spürte der Vater die beiden jedoch auf, wie der Junge in der Vernehmung sagt – und zuvor die Mitarbeiterinnen des Frauenhauses gegenüber SÜDKURIER berichtet hatten.

Wie konnte er sie finden? Das bleibt weiter unklar

Vor dem Singener Frauenhaus habe der Vater um eine letzte Chance gebeten. An die Antwort seiner Mutter erinnert der Sohn sich so: „Du hast die letzte Chance schon vertan.“

Sie wollte ein neues Leben ohne Gewalt für sich und ihren Sohn. Das Singener Frauen- und Kinderschutzhaus setzte daraufhin alle Hebel in Bewegung, um die kleine Familie so weit wie möglich wegzubringen. Claudia Zwiebel vom Frauenhaus: „Er stand mit Blumen da. Mutter und Sohn hatten große Angst.“

„Wenn er mich findet, bringt er mich um“

Dass das Opfer wusste: Die Flucht kann den Tod bedeuten – das berichtete Claudia Zwiebel. Und eine Bekannte der 37-Jährigen, die am zweiten Prozesstag als Zeugin vor Gericht aussagte, bestätigte genau das. Einen Satz nämlich habe das spätere Opfer stets wiederholt, so die Frau im Zeugenstand: „Wenn mein Mann mich findet, bringt er mich um.“