Was soll eine Frau tun, deren Mann ihr droht, sie zu töten, wenn sie ihn verlässt? Frauenhäuser sind die Orte, die Schutz bieten. Die Adressen sind geheim. Doch was, wenn der Mann die Frau trotzdem findet? Durch ihr Handy, ihre Smart-Watch – oder die Playstation ihres Kindes?

Ganz genau weiß Claudia Zwiebel vom Singener Frauenhaus bis heute nicht, wie der Mann einer Bewohnerin es im Oktober 2022 schaffte, seine von ihm getrennt lebende Frau aufzuspüren.

Tragisches Ende ist Zäsur in ihrer Arbeit

Vielleicht über eine App oder eine Uhr – oder die Kreditkarte? Die Ermittlungen in dem Fall, der drei Wochen später am anderen Ende von Deutschland ein so tragisches Ende nehmen sollte, dauern an.

Claudia Zwiebel ist Vorständin und Geschäftsführerin des Vereins Frauen- und Kinderschutz Singen.
Claudia Zwiebel ist Vorständin und Geschäftsführerin des Vereins Frauen- und Kinderschutz Singen. | Bild: Eva Marie Stegmann

Claudia Zwiebel weiß nur dies: Dass der Tod der Bewohnerin eine Zäsur in ihrer Arbeit darstellt. Eine Arbeit, die sie als Geschäftsführerin des Frauen- und Kinderschutzvereins – zu dem auch das Frauenhaus Singen gehört – seit 19 Jahren leistet.

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Seither fragt sie sich: Wie können Frauenhäuser Sicherheit garantieren in einer Realität, in der eine verschlossene Tür längst kein Garant mehr für Privatsphäre ist? In der die Apples und Googles dieser Welt monatlich neue Möglichkeiten auf den Markt werfen, um sich digital zu vernetzen? Mit Freunden, Autos, Uhren, Spielkonsolen, Fahrrädern, Kindern und Kameras. Mit dem Halsband des Hundes oder dem Herzschlag des Liebsten. „Das führt unsere Arbeit ad absurdum“, sagt sie.

Das Thema treibt nicht nur Claudia Zwiebel und ihr Team in Singen um: Unsere Recherchen zeigen, dass digitale Gewalt Frauenhäuser in ganz Deutschland verunsichert und überfordert – und, dass Politik und Behörden bislang wenig anbieten, um ihnen zu helfen.

Warum eine Frauenhaus-Bewohnerin sterben musste

Die Geschichte der ehemaligen Bewohnerin des Singener Frauenhauses wäre wahrscheinlich anders verlaufen ohne Apps und Smartphones und digitale Vernetzung. Wer war sie und was ist passiert? Die zuständige Staatsanwaltschaft schweigt und verweist auf laufende Ermittlungen. Uns ist es dennoch gelungen, ein Bild von dem Fall zu zeichnen.

Sie war 37 Jahre alt. Sie zog im September 2022 ins Frauenhaus Singen. Eine dunkelhaarige, gepflegte Frau, gemachte Nägel, dezent geschminkt. Dabei hatte sie ihren Sohn, 13 Jahre alt. Er ist das gemeinsame Kind mit ihrem Ehemann. Sie wollte die Scheidung. Die Familie lebte in Sachsen und führte ein Restaurant. Es lief gut, finanziell.

Er machte Geschenke, richtig große Geschenke

Doch zu Hause soll es jahrelang zu Gewaltexzessen gekommen sein. Schläge und mehr. Auch vor dem Sohn soll der Mann nicht Halt gemacht haben. Claudia Zwiebel: „Sie erzählte, wie er immer wieder drohte: ‚Wenn du mich verlässt, erschieß ich dich.‘“

Die Pädagogin erkennt ein klares Muster häuslicher Gewaltbeziehungen: „Roheste Gewalt, dann eine Honeymoon-Phase, in der es ihm leidtat. Er machte ihr große Geschenke, richtig große Geschenke, eine Wohnung, Anteile. Zwei, drei Wochen später fing die Gewalt wieder an. Nach vier Wochen dann der Exzess. Und wieder von vorne.“

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Sie zeigte ihn nicht an, aus Angst, sagt Claudia Zwiebel. „Sie wusste, er würde sie dann erst Recht töten. Dass es ihm um seine Ehre ging, hat man später gesehen.“

„Sie war niemand, der Hilfe gebraucht hätte“

Die erste Zeit in Singen lief aus Sicht der Chefin des Singener Frauen- und Kinderschutz gut: „Sie war eine bodenständige, sehr geschäftstüchtige Frau, die sich auch ein bisschen mit um die anderen Bewohnerinnen kümmerte, ihnen Mut zusprach. Das haben sie später erzählt. Sie war beliebt. Sie und ihr Sohn hatten eine sehr enge Beziehung, das spürte man. Sie war niemand, der Hilfe gebraucht hätte, wäre da nicht dieser Mann gewesen. Sie war gerade richtig bei uns angekommen und bereitete sich auf ihr neues Leben am Bodensee vor.“

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Bis die Mutter Anfang Oktober 2022 vom Einkauf aus der Innenstadt zurückkehrte. „Sie war ganz aufgebracht. Ihr Mann stand plötzlich in der Fußgängerzone vor ihr“, erinnert sich die Geschäftsführerin des Frauen- und Kinderschutzvereins Singen. „Es war klar, dass sie sofort weg muss. Ihr war es auch klar. Besonders schwer fiel es dem Jungen. Er weinte, er hatte sich gerade erst mit den anderen Kindern angefreundet. Beide hatten große Angst.“

Das Singener Frauenhaus hört nichts mehr

Das Team des Frauenhauses setzt alle Hebel in Bewegung und findet eine neue Bleibe für Mutter und Sohn. Weit weg, fast 1000 Kilometer, an der Nordsee. Angebunden an die Frauenhilfe vor Ort.

Das Singener Frauenhaus hört nichts mehr. Bis Ende Oktober 2022. Als eine Kollegin Claudia Zwiebel anruft und ihr sagt, sie solle „Brisant“ anmachen.

Dort wird vom Tod einer Frau berichtet, einer „Hinrichtung auf offener Straße“. Kein Name, kein Bezug zu Singen. Aber Zwiebel ahnt gleich, um wen es sich handelt. Sie sagt: „Das war, als hätte mich eine Faust erwischt.“

Der Sohn musste die Tat mitansehen

Die Polizeidirektion an der Nordsee vermeldete an diesem Tag: Eine Frau lief mit ihrem Sohn am Nachmittag den Gehweg eines Wohngebiets in Schleswig-Holstein entlang. Ein Auto hielt, aus der Beifahrertür stieg ein Mann, richtete eine Waffe auf ihren Kopf.

Ein Nachbar aus einer der Altbauten an der Straße hörte den Schuss, rief die Polizei. Sie brachten die schwer Verletzte ins Krankenhaus. Dort starb sie. Ihr Sohn musste die Tat mit ansehen. Der mutmaßliche Täter: ihr eigener Ehemann.

Der Tatort im Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein.
Der Tatort im Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein. | Bild: Florian Sprenger/Westküsten-News

Der stellte sich wenig später der Polizei. Seither sitzt er in Schleswig-Holstein in Untersuchungshaft. Auch gegen den Fahrer des Wagens wird ermittelt. Noch ist keine Anklage erhoben.

Sie soll sich immer mehr zurückgezogen haben

An der Nordsee ist die Betroffenheit groß. Die Bewohner des Orts gedenken der Frau, die sie kaum kannten. Denn die 37-Jährige soll stark zurückgezogen gelebt haben, anders als zuvor in Singen.

Ein Beteiligter vor Ort sagt gegenüber SÜDKURIER, dass der Sohn des Opfers drei Tage zuvor seine neuen Klassenkameraden getroffen habe. Warum er und seine Mutter an die Nordsee geflohen seien, habe der Junge erzählt. Am Tag nach dem Mord hätten die anderen Schüler gefragt: Wo ist er? Wie geht es ihm? Fragen ohne Antwort.

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Wie konnte der Ehemann seine Frau auf der Flucht erneut aufspüren? Auf diese Frage gibt es eine vorläufige Antwort, wenigstens, die alle Befragten übereinstimmend geben: Er hat sie digital überwacht.

Es gibt Vermutungen, wie genau: Ein Post in den sozialen Medien aus dem Ort, den er gesehen haben könnte. Eine App, die sie möglicherweise installiert hatte. Vielleicht Überwachungssoftware auf einer Uhr. Erst der Prozess wird letzte Gewissheit bringen.

Frauenhäuser in Deutschland sind extrem besorgt

„Wir haben sie ans andere Ende von Deutschland gebracht, man hat alles getan, dass sie sicher sein konnte. Es ist trotzdem passiert“, sagt Claudia Zwiebel.

Sie wirkt ratlos. Und damit ist sie nicht allein. Dass gewalttätige Expartner und Ehemänner ihre Schützlinge digital auskundschaften und die geheimen Adressen von Frauenhäusern finden könnten, sorgt Schutzeinrichtungen und Helferinnen in ganz Deutschland.

Heike Herold ist Geschäftsführerin des Vereins Frauenhauskoordinierung in Berlin.
Heike Herold ist Geschäftsführerin des Vereins Frauenhauskoordinierung in Berlin. | Bild: Falk Weiss

„Die Situation beunruhigt die Mitarbeiterinnen sehr, es bräuchte viel mehr Fortbildung und technische Unterstützung“, sagt Heike Herold vom Verein Frauenhauskoordinierung Berlin. Der Verein sieht sich als Interessensvertretung vieler Beratungsstellen und Frauenhäuser im Land und forscht zu digitaler Gewalt.

Smartphone abgeben: „Ja, das ist ein hoher Preis“

In Frauenhaus Singen wird hochgefährdeten Frauen empfohlen, sich vom Smartphone zu trennen, alle technischen Geräte abzugeben. Die packen die Mitarbeiterinnen in spezielle Kisten. „Allenfalls“, sagt Claudia Zwiebel, „können sie sich ein Handy ohne Internetempfang zulegen. Ja, das ist ein sehr hoher Preis. Man muss sich vorstellen, dass die Frauen alles aufgegeben haben, dass sie wie untertauchen. Und soziale Netzwerke sind das Stück Gemeinschaft, das sie noch haben.“

Ein Thema, das offenbar jedes Frauenhaus anders handhabt. Heike Herold sagt: „Wir versuchen, den Mitarbeiterinnen möglichst viel an die Hand zu geben. Die Frauen und Kinder müssen die digitalen Endgeräte weiter nutzen können. Aber so sicher, dass die Kinder nicht instrumentalisiert werden.“

LKA-Experte: „Wir sehen den Trend“

Wie kann das gelingen? Mathias Bölle ist Leiter der Abteilung „Cyber Crime und Digitale Spuren“ im Landeskriminalamt Baden-Württemberg. Er warnt: „Wir sehen den Trend, dass moderne IT für potenzielle Täter Möglichkeiten bergen, an die man vorher nicht gedacht hat. Es gibt technische Möglichkeiten, die hätten Sie als durchgedrehter Mann vor fünf Jahren noch nicht gehabt.“

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Was rät er? „Ich kann emotional verstehen, dass eine Frau, die gerade ihr Leben aufgegeben hat, in einer so belastenden Situation nicht auch noch alle kommunikativen Brücken abbrechen will. Das Beste wäre jedoch: Smartphone weg, neue Nummer, neuer Anschluss. Überall neue Accounts erstellen – und dann von da aus die Kommunikation mit Bekannten suchen. Natürlich unter der Maßgabe, das jede Kommunikation ein gewisses Risiko birgt.“

Das technische Verständnis bei den Mitarbeiterinnen im Frauenhaus und bei den Frauen selbst schätzt er als wichtigen Faktor für das Gelingen ein.

„Und auf einmal ging die Gewalt im Haus weiter“

Claudia Zwiebel vom Frauenhaus Singen erinnert sich: „Als ich angefangen habe, gab es einen Münzfernsprecher im Haus. Die Frauen waren da – und dann war die Gewalt zu Ende. Die haben dann ihre Mutter, ihre Freundin über diesen Münzfernsprecher angerufen. Fertig. Und die waren von niemandem zu erreichen und haben auch niemanden erreicht. Und dann kamen die Handys. Und auf einmal ging die Gewalt im Haus weiter. Weil auch die Bedrohung weiterging. Das nimmt Ausmaße an. Alles ist so miteinander vernetzt, wir verlieren den Überblick – und die Frauen umreißen es nicht.“

Heike Herold: „Die Mitarbeiterinnen sind ja keine IT-Fachleute, sondern Pädagoginnen!“

Im September 2022 fordert der Verein Frauenhauskoordinierung Bund und Länder dringend auf, das Thema digitale Gewalt ernst zu nehmen und Frauenhäuser finanziell zu unterstützen.

Keine sechs Wochen danach muss ein 13-Jähriger zusehen, wie seine Mutter stirbt.

Offenbar wusste sie, dass ihr Mann sie gefunden hatte

Offenbar wusste die Frau an ihrem neuen Aufenthaltsort in Schleswig-Holstein bereits, dass ihr Mann sie erneut aufgespürt hatte – das legen unsere Recherchen nahe. Auch, dass Sie am Tag ihres Todes wahrscheinlich unterwegs war, um sich Hilfe zu holen.

Da hatte ihr Mann schon seine Schusswaffe eingepackt, und war in ein Auto gestiegen.

Spurensicherung nach der Tat.
Spurensicherung nach der Tat. | Bild: Florian Sprenger/Westküsten-News

Über sechs Stunden dauert die Fahrt an die Nordsee von seinem Wohnort aus. „Er hatte sechs Stunden Zeit, sich das zu überlegen, es ist unbegreiflich“, sagt ein Lokalpolitiker aus Schleswig-Holstein. „Solche Männer sind wie besessen. Es war ihm egal, dass er verhaftet wird, er wusste das“, sagt Claudia Zwiebel.

LKA-Experte: Es gibt viele Möglichkeiten, zu spionieren

Matthias Bölle kennt solche Fälle: „Wenn Sie einen Mann haben, der mit aller Macht den Aufenthaltsort herausfinden will, dann war der vorher schon krankhaft eifersüchtig. Sicher hat er sich Gedanken gemacht, wie er rauskriegt, ob seine Frau fremdgeht. Es gibt Möglichkeiten, Messenger mitzulesen. Überprüfen Sie doch mal selber, ob Ihnen auffallen würde, wenn jemand eine App auf Ihrem Smartphone installiert, die Sie nur sehen, wenn Sie auf „Einstellungen“ gehen.“

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Wenn in der öffentlichen Debatte über Sicherheit von Frauen vor gewalttätigen Männern gesprochen wird, komme eines immer zu kurz, findet Claudia Zwiebel: Die Täterbetrachtung. Die Frage, wie und wer verhindern kann, dass ein Mann so wird und so denkt, die werde selten gestellt.

Sie sagt: „Das ganze Hilfesystem zurrt sich an der Frau hoch. Es gibt kaum Täterberatung, Prävention. Und wenn eine Frau die Flucht geschafft hat, sucht sich der Täter einfach die Nächste.“

Als wäre es ein Naturgesetz, dass Männer ihre Frauen töten. Wie es jeden dritten Tag in Deutschland passiert.