Susanne Biskoping arbeitet im Frauenhaus, um Gewaltopfern zu helfen. Doch immer wieder muss sie Frauen in Not enttäuschen. „Wir haben allein am Montag vier Hilfesuchende ablehnen müssen“, sagt die Leiterin des Singener Frauen- und Kinderschutzhaus. „Sie haben vier Anrufe, dann nehmen Sie die Erste – und der Platz ist weg“, erklärt sie.
Frauenhäuser gelten als die letzte Bastion für diejenigen, die Gewalt erfahren oder mit dem Tode bedroht werden. Die Adressen sind anonym, die Opfer in Sicherheit. So die Theorie. Die Realität ist aber, dass es in der Region zu wenig Plätze gibt – und die große Mehrheit der Frauen in Baden-Württemberg sich das Frauenhaus gar nicht leisten kann. Wer denkt, den Aufenthalt zahlt das Land oder der Bund, irrt. Gewaltopfer müssen bis auf Ausnahmen selbst zahlen – bis zu 2000 Euro pro Monat.
Recherche zeichnet bedrückendes Bild
Wie ist die Situation in Südbaden im Detail? Was macht das mit den Frauen und Mitarbeiterinnen? Und wie will die Politik gegensteuern? Unsere Recherche in Zusammenarbeit mit Correctiv.Lokal, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, zeichnet ein bedrückendes Bild:
Da wären einmal die fehlenden Plätze. Im Frauenhaus Konstanz haben im Jahr 2022 341 Personen nach Schutz gefragt. 75 davon erhielten eine Absage aus Platzgründen.
Der Europarat empfiehlt, dass es einen Frauenhausplatz pro 7500 Einwohner gibt. Um diese Zahl zu erreichen, fehlen in Baden-Württemberg 648 Plätze und auch in der Region gibt es große Lücken:
Auf der Seite frauenhaussuche.de gibt es eine Karte, die freie Plätze in ganz Deutschland anzeigt. Die 310 Frauenhäuser melden tagesaktuell ihre Kapazitäten. Correctiv.Lokal hat im Jahr 2022 Daten von frauenhaussuche.de gesammelt.
Diese Daten zeigen, wie oft die Frauenhäuser keine Plätze mehr haben. So war die Lage in Baden-Württemberg:
Und in der Region? Eine Stichprobe am 5. April: Im Landkreis Konstanz ist alles dicht, ebenso im Bodenseekreis und im Schwarzwald-Baar-Kreis. Nur eines der 42 Baden-württembergischen Frauen- und Kinderschutzhäuser nimmt auf: Es ist in Mannheim. „Sobald man einen freien Platz einstellt, ist man praktisch arbeitsunfähig. Das Telefon klingelt dann 100 Mal“, sagt Ruth Syren vom Frauenhaus Mannheim.
Was aus den abgelehnten Frauen wird? Unklar
Von Konstanz oder Villingen aus ins Frauenhaus Mannheim zu fliehen, das würde in der Praxis bedeuten: Wer eine Arbeit hat, muss sie aufgeben oder pausieren. Wer Kinder hat, muss sie aus ihrem Umfeld nehmen, von der Schule abmelden.
Das wollen viele nicht – und bleiben lieber in der Gewaltbeziehung. „Häufig der Kinder wegen“, sagt Heike Herold vom Verein Frauenhauskoordinierung, einer deutschlandweiten Interessensvertretung der Branche.
Susanne Biskoping vom Singener Frauenhaus schildert, wie es weitergeht, wenn kein Platz im Haus ist.
„Vielleicht ist es der einzige Anruf, den sie machen kann“Susanne Biskoping, Frauenhaus Singen
Sie versuche dann, die Anruferin weiterzuvermitteln, ihr mit Rat, Adressen, Telefonnummern oder einer persönlichen Beratung zu helfen. „Wir lassen niemanden im Stich.“
Warum gibt es nicht genug Plätze?
Deutschland hat sich 2018 vor dem Europarat verpflichtet, allen Frauen und Mädchen Schutz vor Gewalt zu bieten. Und ein Gesetz, die Istanbul-Konvention, unterzeichnet. Kürzlich war eine Überprüfungs-Kommission im Land. Ihr Fazit: Gravierende Mängel.
Nach diesem Gesetz müsste der Bund über die Frauenhäuser wachen, sie zur Chefsache machen. Er sollte festlegen, wie viele Häuser es geben muss, dafür sorgen, dass die Plätze für alle bezahlbar sind und Standards bestimmen – so etwas wie Mindestzimmergrößen oder Personalschlüssel.
Gewaltschutz wird dem Zufall überlassen
Nichts davon existiert. Die Frauenhauslandschaft ist ein Flickenteppich. Wo ein Haus entsteht, hängt davon ab, ob sich jemand dafür einsetzt. Etwa Privatinitiativen oder Wohlfahrtsverbände wie die AWO oder Kommunalpolitiker. Es gibt Regionen mit vielen Häusern, Regionen mit wenigen. Bundesländer, in denen der Schutz kostenlos ist, weil Landtage die Wichtigkeit erkannt haben. Wie Schleswig-Holstein oder Brandenburg. Bundesländer, in denen Frauen zahlen müssen. Zu diesen gehört Baden-Württemberg.
„Baden-Württemberg ist absolutes Schlusslicht, was die Finanzierung angeht“, stellt Julika Funk, die Gleichstellungsbeauftragte im Konstanzer Rathaus, fest.
So ist die Finanzierung im Land
Ja, für Reparaturen, Baumaßnahmen und Sonderprojekte gibt es vom Land einen Zuschuss. Auch die Beratung der Frauen in Not zahlt Baden-Württemberg. Das Problem sind die Personal- und Mietkosten für den Aufenthalt im Schutzhaus. Denn: Das Land hat festgelegt, dass die Einrichtungen nicht pauschal bezuschusst werden, sondern pro Kopf und Tag, als Tagessatz.
Ausgezahlt wird der von den Sozialämtern der Landkreise und Kommunen, mit denen die Frauenhäuser je nach Größe, Lage und Ausstattung des Hauses den Tagessatz aushandeln. Klingt kompliziert, aber nicht verkehrt.
Mehrheit muss für Platz zahlen
Wenn da nicht das große Aber wäre. Den vollen Zuschuss gibt es nur für Frauen, die Anspruch auf Arbeitslosengeld II beziehungsweise Bürgergeld haben. Die Mehrheit ist das sicher nicht. Berufstätige erhalten häufig einen Teilzuschuss.
Rentnerinnen, Auszubildende, Frauen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus oder Studentinnen müssten laut Landesgesetz für ihren Schutz komplett selbst aufkommen.
Für Veronika Wäscher-Göggele, Frauen- und Familienbeauftragte des Bodenseekreises, ein Skandal: „Wir müssen uns das vorstellen, die Frauen sind traumatisiert, sie gehen diesen Wahnsinnsschritt in die Frauen- und Kinderschutzhäuser. Das ist ja kein Ferienlager! Und dann werden sie auch noch zur Kasse gebeten.“

2022 musste etwa das Konstanzer Frauenhaus 18 Hilfesuchende, für die theoretisch ein Platz vorhanden gewesen wäre, wieder ziehen lassen. Weil die Finanzierung nicht geklärt war.
Ein Platz pro Frau oder Kind kostet in Konstanz 70 Euro am Tag, also über 2000 Euro im Monat. Verpflegung nicht inbegriffen. Eine Studentin, die sich das leisten kann, müsste schon sehr vermögend sein.
Studentinnen müssten sich exmatrikulieren
Manche Häuser nehmen Rentnerinnen, Studentinnen oder Frauen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus nicht auf. Claudia Zwiebel vom Singener Frauenhaus sagt: „Wir hatten schon einmal eine Studentin. Einen Einzelfall kann man in Absprache mit dem Landkreis irgendwie hinkriegen oder auf Spenden zurückgreifen.“ Aber: Der bürokratische Aufwand sei enorm.
„Studentinnen müssten sich bei uns exmatrikulieren, anders geht es nicht“, sagt Regina Brütsch, Geschäftsführerin des Konstanzer Frauenhauses.
Wie sieht es bei den Berufstätigen aus?
Für Berufstätige übernimmt der Landkreis Konstanz etwa den Teil der Kosten, der auf die psychosoziale Betreuung, also das Personal, entfällt. Blieben die Wohnkosten, das sind einige hundert Euro pro Kopf und Kind. Das summiert sich, wenn etwa eine Mutter mit drei Kindern vor der Tür steht. Was, wenn sie nicht zahlen kann?
Regina Brütsch berichtet aus der Praxis: „Gerade heute hatten wir wieder eine Anfrage einer Berufstätigen. Die Frau wäre gerne gekommen. Sie müsste ihren Job aufgeben, um Arbeitslosengeld II zu bekommen – und damit den Anspruch, dass ihr Aufenthalt bei uns komplett gezahlt wird. Sie wollte das nicht.“
Dass Gewaltopfer arbeitslos gemacht werden, um die Finanzierung des Frauenhauses stemmen zu können, ist gängig. Wenn sie aus anderen Landkreisen oder Bundesländern stammen, ist eine Fortführung des Jobs meist ohnehin schwierig.
Die Aufnahme von Externen bringt noch andere Schwierigkeiten mit. Darüber berichtet Kathrin Stumpf, Kreisgeschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt, der Trägerin des Frauenhauses im Bodenseekreis.
Nicht alle Landkreise wollen zahlen
„Wenn wir Bewohnerinnen aus anderen Landkreisen oder Bundesländern haben, muss für die ihr Herkunftslandkreis zahlen. Da kann es sein, dass erst einmal nicht klar ist, ob das übernommen wird. Manche Kreise fragen: ‚Warum ist die Frau bei euch, nicht bei uns‘?“ Oder, nach einigen Wochen: ‚Warum ist die noch immer bei euch?‘“
Der Bodenseekreis übernimmt abhängig vom Einkommen auch die Wohnkosten für Berufstätige. Aber nur für Bewohnerinnen des Bodenseekreises.
Abweisen? Keine Option!
„Gewalt gegen Frauen interessiert in der Politik offenbar keinen!“, sagt Claudia Zwiebel vom Singener Frauenhaus. Betrachtet man die Lage in Baden-Württemberg und Südbaden, wird ihr Frust verständlich. Frauenhäuser versuchen viel, um trotz der Hürden zu helfen.
Claudia Zwiebel: „Der Schutz geht vor. Wenn es keine Finanzierung gibt, kann die Frau nicht bei uns bleiben, aber wir können sie kurz aufnehmen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Sie weitervermitteln.“ In ein günstiges Hotel oder andere Bundesländer. Eine Verbesserung gibt es nämlich seit 2020: Das Land zahlt Kurzzeitaufenthalte bis zu 72 Stunden für alle Frauen und Kinder in Not.
Land schiebt Verantwortung weiter
Zwiebel fordert eine bundeseinheitliche, gesicherte Finanzierung. Wie alle, mit denen der SÜDKURIER für diese Recherche gesprochen hat. Auch das Sozialministerium des Landes sieht das Problem, schreibt Ende 2021 in einer Stellungnahme: „Eine einzelfallunabhängige Finanzierung ist zu begrüßen.“ Passiert ist bislang trotzdem nichts – im Gegenteil, die Verantwortung wird nach Berlin geschoben.
Anfang März stimmte der Landtag von Baden-Württemberg nämlich über einen Gesetzesvorschlag der SPD zum Thema Frauenhäuser ab. Das Gesetz sollte für mehr Geld und Sicherheit für die Schutzhäuser sorgen. Viele Vertreterinnen von Frauenhäusern und Opferberatungen waren mit Bannern vor Ort. Und wurden enttäuscht: Der Gesetzvorschlag wurde abgelehnt. Zuständig sei der Bund, hieß es von den Regierungsfraktionen Grüne und CDU.
Häusliche Gewalt erneut gestiegen
Und nun? Warten alle, bis der Bund handelt. Unterdessen meldet das Polizeipräsidium Konstanz, dass die häusliche Gewalt erneut gestiegen sei.
589 Frauen erstatten 2022 im Bereich des Präsidiums Anzeige. 2016 waren es 457 Frauen.