Wie fühlt es sich an, in einem kleinen Haus zu sitzen und von Riesen umzingelt zu sein? Nino Merusic sagt: „Das stört mich nicht. Ich fühle mich nicht eingeklemmt.“ Nino Merusic ist der Pächter des Cafés Hanser, das inmitten des neuen Einkaufszentrums Cano die Rolle des Solitärs einnimmt. Merusic ist der einzige Konditor in der Umgebung und freut sich darauf, sein Café und den kleinen Laden in Kürze wieder öffnen zu können. Sein konkretes Ziel ist, dass er das Geschäft noch vor dem zweiten Advent für die Kunden aufschließen kann. Dort will er dann neben Torten und Pralinen weihnachtliches Gebäck verkaufen. Der Öffnungstermin des Cafés hängt von den Vorschriften zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und vom Renovierungsfortschritt ab. Letzteres sollte kein Problem sein. Innen wird bereits gestrichen, und die Wandtapeten sind auch schon ausgewählt.

Viele fragen sich: Wie kann man vier Wochen nach einer Tapete suchen?
Wenn man sich jetzt fragt, warum die Tapete eine besondere Erwähnung wert ist, so gibt es dafür eine Begründung: Das gesamte Gebäude steht unter Denkmalschutz, nicht nur das Gemäuer. Das Besondere ist, dass die Inneneinrichtung vollständig im Original Art-Déco-Stil aus dem Jahr 1932 erhalten ist. Das stellte den Pächter bei der Renovierung des Cafés vor eine Herausforderung. Zusammen mit der Hilzinger Restauratorin Melanie Bochmann betrieb er zunächst Ursachenforschung. Unter verschiedenen Schichten schälte sich eine Tapete mit einer Goldstruktur heraus. Jetzt war der Ehrgeiz geweckt. Nino Merusic wollte dem Original möglichst nahe kommen. Und so begann der Konditor nach Tapeten zu suchen.

Nino Merusic hat sich in das Café Hanser verliebt
„Drei, vier Wochen lang hat er alles durchgekämmt, bis er eine Tapete fand, die der ursprünglichen ähnlich ist“, berichtet Melanie Bochmann anerkennend. Sie ist froh, dass Merusic beim Denkmalschutz so gut mitmacht. Aber das ist eigentlich kein Wunder. In einem anderen Gespräch hatte der Konditor verraten, dass er sich in dieses Café verliebt habe. Gebürtig in Sarajevo hat er beim Meister Lutz gelernt und darf dessen österreichische Rezepturen verwenden.
Die Restauratorin arbeitet wie eine Detektivin
Freudestrahlend beschreibt Melanie Bochmann, wie sie sich selbst in die Details dieses Hauses hineingearbeitet hat: Schicht für Schicht. Die Arbeit der Restauratorin ähnelt der einer Detektivin. So hat sie zum Beispiel bei der Suche nach der Farbe für die Außenfassade mit dem Skalpell vorsichtig kleine Quadrate aus dem Putz der Backstube geschnitten. Sie wollte herauszufinden, wie das Vorderhaus einmal farblich gestaltet war. Unter dem Sichtputz fand sie einen zartgelben Vorgängerputz. Letzte Gewissheit gibt es nicht. Aber da das Hinterhaus später gebaut wurde, geht die Restauratorin davon aus, dass die Farbe dem Vorderhaus angepasst wurde.

Es entsteht eine besondere Spannung zwischen historischem und neuem Gebäude
Man kann jetzt fragen: Wozu der ganze Aufwand? Aber das Ergebnis kann sich sehen lassen. Bis vor wenigen Tagen war das Gebäude noch eingerüstet. Nachdem das Gerüst weg ist, strahlt der zartgelbe Putz mit den sandsteinfarbenen Fenstergewändern eine heimelige Wärme aus. Im Kontrast zu dem modernen Cano-Gebäude entsteht eine interessante Spannung.

Das findet man selten: eine vollständige Inneneinrichtung im Art-Déco-Stil
Es sind die Details, die es sowohl der Restauratorin, als auch dem Caféhaus-Betreiber angetan haben. Der Dritte im Bunde ist Tilo Brügel vom städtischen Bauamt und Leiter der unteren Denkmalbehörde. Auch für ihn ist dieses Gebäude eine Besonderheit in Singen. Die junge Stadt verfügt über wenig historische Gebäude. Das Café Hanser ist eines. Das neue Einkaufszentrum, dessen Eröffnungstermin auf den 10. Dezember verschoben wurde, wurde um dieses Grundstück herum gebaut.
Caféhausbetreiber fühlt sich wohl in der modernen Umgebung
Eingeklemmt zwischen viel Glas, Stahl und Beton? Nino Merusic empfindet das ganz anders. „Früher hatten wir sogar viel weniger Platz für unsere Außengastronomie.“ Nicht einmal die Baustelle habe ihn gestört. „Wir hätten weiter gearbeitet. Aber wegen Corona mussten wir im Lockdown wie alle anderen schließen.“ Schon vorher war das Haus wegen der Bauarbeiten neun Monate geschlossen. Umso mehr eifert er mit seiner Frau Amna dem Neustart entgegen. „Wir wollen unsere Gäste mit einem Weihnachtsprogramm verwöhnen“, freut er sich.

Bundesweit in Schlagzeilen
Wenn man vom Café Hanser erzählt, dann darf eine Geschichte nicht unerwähnt bleiben. Sie ereignete sich am 3. Mai 1977 und zählt zu den atemberaubendsten Kriminalgeschichten Singens. An diesem Morgen entdeckte eine Singenerin zwei Mitglieder der Rote Armee Fraktion (RAF) beim Frühstück im Café Hanser. Die beiden Terroristen Günter Sonnenberg und Verena Becker wurden nach dem Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback bundesweit gesucht. Becker und Sonnenberg wollten vermutlich über die grüne Grenze in die Schweiz verschwinden. Bei der Polizei nahm man die Zeugin nicht ganz ernst, schickte aber dennoch zwei junge Polizisten ins Café, um die Personen zu überprüfen. Mit der Erklärung, sie hätten ihre Ausweise im Auto, lockten die Terroristen die Beamten durch die Innenstadt. Als die Beamten misstrauisch wurden, zog Sonnenberg eine Waffe. Es kam zur Flucht und einer wilden Schießerei, bei der ein Polizist und Günter Sonnenberg lebensgefährlich verletzt wurden. Der andere Polizist wurde leichter verletzt. Verena Becker erlitt einen Beinschuss. An dem Tag war Singen und das Café Hanser bundesweit in den Schlagzeilen.