Der RAF-Terrorismus war mit Großstädten wie Berlin, Stuttgart, Hamburg, Kaiserslautern oder Frankfurt verbunden. Am 3. Mai 1977 wurde er, von den Terroristen jedoch völlig ungeplant, in die Provinz getragen. Verena Becker (Jahrgang 1952) und Günter Sonnenberg (1954) wurden nach einer Schießerei, bei der zwei Polizeibeamte und die beiden Terroristen zum Teil schwer verletzt wurden, in Singen festgenommen.

Becker und Sonnenberg, die seinerzeit zur engen Terroristen-Szene gehörten, kamen mit der Bahn von Essen und wollten mit ziemlicher Sicherheit über die Grüne Grenze in die nahe Schweiz. Sie frühstückten im Café Hanser direkt vor dem Bahnhofseingang.

Das Café Hanser in der August-Ruf-Straße. Hier frühstückten die beiden Terroristen und wurden von einer Frau erkannt. Diese ging zur ...
Das Café Hanser in der August-Ruf-Straße. Hier frühstückten die beiden Terroristen und wurden von einer Frau erkannt. Diese ging zur Polizei. Zwei Beamte wollten die Terroristen kontrollieren und gingen mit ihnen quer durch die Stadt zu ihrem angeblichen Auto. | Bild: Dieter Britz

Ihr Pech: gegen 8.40 Uhr wollte eine 64-Jährige, die gerade von einem Zahnarzt-Termin kam und vorher nicht frühstücken durfte, im Hanser einen Kaffee trinken. Ihre heute 83 Jahre alte Nichte erinnert sich noch lebhaft an die Erzählungen ihrer 1914 in Singen geborenen Tante, die im Jahr 1987 verstarb. Sie schilderte, dass ihrer Tante das Verhalten der beiden jungen Leute sehr verdächtig vorkam, zumal sie einen offenbar recht mysteriösen Rucksack bei sich hatten, der sich später bei der Durchsuchung durch die Kriminalpolizei als wahre Fundgrube erweisen sollte. Er enthielt unter anderem Autokennzeichen, zwei Revolver, drei Pistolen, ein Heckler und Koch-Selbstladegewehr und Bargeld.

Ein Rucksack der Terroristen im Fluchtauto. Sie hatten nicht nur Autokennzeichen, sondern auch falsche Papiere, 2200 D-Mark sowie ...
Ein Rucksack der Terroristen im Fluchtauto. Sie hatten nicht nur Autokennzeichen, sondern auch falsche Papiere, 2200 D-Mark sowie Schweizer Franken und DDR-Mark dabei. | Bild: Dieter Britz

Zeugin merkt, dass etwas faul ist

„Die Tante war eine richtige Kriminalistin“, schilderte ihre Nichte: „Sie hat gemerkt, dass da etwas faul ist“. Ihr fiel auch auf, dass die beiden jungen Leute die Kleinanzeigen mehrerer Zeitungen studierten. Deshalb verließ sie das Café durch den Hintereingang und lief zum nur ein paar Meter entfernten Polizeirevier an der Ecke August-Ruf- und Hegaustraße, um zu melden, dass dort zwei Terroristen ihren Kaffee schlürfen.

An der Ecke Freiheitstraße und Alpenstraße schossen die Terroristen die beiden Polizeibeamten nieder, einer wurde sehr schwer, der ...
An der Ecke Freiheitstraße und Alpenstraße schossen die Terroristen die beiden Polizeibeamten nieder, einer wurde sehr schwer, der andere leichter verletzt. Die Täter flüchteten mit einem geraubten Opel Ascona. | Bild: Dieter Britz
Die Ecke Freiheitstraße und Alpenstraße im Jahr 2019: Hier hat sich mit den Jahren wenig geändert.
Die Ecke Freiheitstraße und Alpenstraße im Jahr 2019: Hier hat sich mit den Jahren wenig geändert. | Bild: Sabine Tesche

„Man hat meine Tante dort nicht voll genommen“, klagte die Nichte im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Das war auch kein Wunder, denn seinerzeit kamen falsche Terroristen-Meldungen öfters vor. Immerhin wurden zwei junge Polizeibeamte losgeschickt, um die Beiden unter die Lupe zu nehmen. Diese erzählten den Beamten, dass sie ihre Ausweise in einem geparkten Auto hätten. Also marschierten alle vier quer durch die Stadt bis zur Ecke Höri- und Freiheitsstraße. Als die Beamten misstrauisch wurden, zog Günter Sonnenberg unvermittelt eine Pistole und schoss auf die Beamten. Der eine wurde lebensgefährlich verletzt, der andere leichter.

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An der Kreuzung Alpen- und Freiheitsstraße kaperten Becker und Sonnenberg mit vorgehaltener Pistole einen blauen Opel Ascona und rasten, verfolgt von Polizeifahrzeugen, über Richtung Friedenslinde. Am Rathaus kam es zu einem ersten Feuergefecht. Da sie nicht ortskundig waren, ging die Flucht über die Burg- und Keltenstraße in die Nordstadt. Am Ende der Straße wollten sie zu Fuß weiter.

An dieser Stelle am Ende der Keltenstraße war die Flucht per Auto zu Ende. Die beiden wollten zu Fuß weiter. Es kam zum Feuergefecht.
An dieser Stelle am Ende der Keltenstraße war die Flucht per Auto zu Ende. Die beiden wollten zu Fuß weiter. Es kam zum Feuergefecht. | Bild: Dieter Britz
Auch Jahrzehnte später signalisieren die Warnbaken, dass es an dieser Stelle geradeaus nicht weiter geht.
Auch Jahrzehnte später signalisieren die Warnbaken, dass es an dieser Stelle geradeaus nicht weiter geht. | Bild: Sabine Tesche

Waffe wurde bei besonderem Attentat verwendet

Bei einem weiteren Feuergefecht erlitt Sonnenberg einen Kopfschuss. Ironie der Geschichte: ein Polizeibeamter schoss mit einer Maschinenpistole aus dem Rucksack der Terroristen, die beim tödlichen Attentat im April 1977 auf den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback verwendet worden war. Verena Becker kam mit einem Schuss ins Bein davon.

Die beiden Polizeibeamten wurden ebenso wie die Terroristen sofort im Singener Krankenhaus ärztlich versorgt. Becker wurde noch am selben Tag mit einem Hubschrauber ins Gefängnis-Krankenhaus nach Stuttgart-Stammheim geflogen. Sonnenberg allerdings war wegen seines Kopfschuss‘ zunächst nicht transportfähig. Er wurde erst am Samstag, 7. Mai, in eine Spezialklinik nach Tüblingen ausgeflogen. Bis dahin war das Krankenhaus von zahlreichen schwer bewaffneten Polizeibeamten wie eine Festung gesichert.

Das Fluchtauto, ein Opel Ascona, haben die Terroristen Verena Becker und Günter Sonnenberg auf einer Streuobstwiese oberhalb der Aach ...
Das Fluchtauto, ein Opel Ascona, haben die Terroristen Verena Becker und Günter Sonnenberg auf einer Streuobstwiese oberhalb der Aach abgestellt. | Bild: Dieter Britz
So sieht es 2019 an der Stelle aus. Inzwischen wächst Mais und ein Neubaugebiet ist entstanden.
So sieht es 2019 an der Stelle aus. Inzwischen wächst Mais und ein Neubaugebiet ist entstanden. | Bild: Sabine Tesche

Örtliche Polizei bekam einen Maulkorb

Am 3. Mai herrschte zunächst Verwirrung, wer da überhaupt festgenommen worden war. Zunächst war die Rede von Juliane Plambeck und Knut Folkerts, zwei anderen Terroristen. Es dauerte einige Stunden, bis die Polizei die korrekten Namen nennen konnte. Die Arbeiten der Journalisten wurde dadurch erschwert, dass die örtliche Polizei sehr bald einen Maulkorb bekam und nur noch das Landeskriminalamt in Stuttgart Auskunft geben durfte. Außerdem hieß es, auch am Hohentwiel hätte es eine Schießerei gegeben.

Noch am selben Abend waren die Fernsehnachrichten voll mit den Ereignissen aus Singen. In der ARD-Tagesschau kam die Meldung prominent als erste – sie ist noch heute bei YouTube zu finden.

Innenminister Karl Schiess kam nach Singen und besuchte zusammen mit Landrat Robert Maus und Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle die beiden verletzten Polizeibeamten im Krankenhaus. In den Tagen danach gab es zwei Bombendrohungen. Ein gefundener Sprengsatz hätte sogar eine kleine Explosion auslösen können.

Zwei Wochen später erneut Unruhe

Zwei Wochen nach dem 3. Mai veranstaltete das Bundeskriminalamt eine Tatort-Rekonstruktion. Da sie nicht angekündigt war, sorgte sie für erneute Unruhe und Verärgerung in der Bevölkerung. Danach wuchs Gras über die Angelegenheit. Die Familie der Informantin, die im Café Hanser die beiden Terroristen entdeckt hatte, fürchtete sich noch einige Zeit vor Rache. Sie stand deshalb auch eine Weile unter Polizeischutz.

Günter Sonnenberg war wegen seiner Kopfverletzung zunächst nicht transportfähig. Er wurde erst am Samstag, 7. Mai, per Hubschrauber in ...
Günter Sonnenberg war wegen seiner Kopfverletzung zunächst nicht transportfähig. Er wurde erst am Samstag, 7. Mai, per Hubschrauber in eine Tübinger Spezialklinik geflogen. | Bild: Dieter Britz

Noch im Herbst 1977 fand der Prozess gegen Verena Becker in einer festungsartig gesicherten Turnhalle des Gefängnisses in Stuttgart-Stammheim statt. Zu zweimal lebenslänglich wegen Mordversuchs verurteilt, wurde sie 1989 begnadigt. Wegen Beihilfe zum Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977 in Karlsruhe wurde sie 2012 nochmals zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und im Februar 2014 wieder auf Bewährung freigelassen.

Der durch den Kopfschuss sehr schwer verletzte Günter Sonnenberg kam aus gesundheitlichen Gründen erst 1978 in Stammheim vor Gericht und wurde im Mai 1992 auf Bewährung entlassen.

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Der Terror der Roten Armee Fraktion mit Toten und Verletzten ging noch Jahre weiter. Im März 1993 verübte die dritte Generation der RAF ihren letzten Anschlag und sprengte das Gefängnis in Weiterstadt, das fünf Tage später in Betrieb genommen werden sollte, in die Luft. Erst 1998 ging bei der Nachrichtenagentur Reuters ein Schreiben ein: „Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“

2024 ist die RAF wieder ein großes Thema

Doch bis heute werden gelegentlich Raubüberfälle auf Einkaufszentren oder Geldtransporter Mitgliedern der RAF, die frisches Geld zum teuren Leben in der Illegalität brauchen, zugeschrieben. Ende Februar 2024 wurde RAF-Terroristin Daniela Klette aus Karlsruhe gefasst – nach 30 Jahren. Seitdem häufen sich wieder Meldungen zu Durchsuchungen.

Der Autor war seinerzeit zusammen mit Georg Exner und Walter Wolter Redakteur in der SÜDKURIER-Lokalredaktion in Singen.

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