Für ihn war es anfangs nur eine gewöhnliche Personalkontrolle. Der junge Polizist Wolfgang Seliger geht am 3. Mai 1977 im Café Hanser auf das Pärchen zu, das er und sein Kollege kontrollieren wollen. Sie sollen aus Stuttgart angereist sein, hätten ihre Ausweise im Auto vergessen. An ihrem Auto erkennt er jedoch ein Konstanzer Kennzeichen. Gerade als er die Situation als Falle erkennt, fallen Schüsse. Die beiden Personen waren RAF-Terroristen. Und Seliger der Polizist, den sie fast getötet hätten. Heute noch ist er als Zeitzeuge unterwegs, um seine Geschichte zu teilen.
Dieses Mal sind seine Zuhörer zwölf Kinder ab zehn Jahren. Im Sommerferienprogramm des Singener Stadtarchivs wird ihnen gezeigt, wie solche Fälle dokumentiert und gespeichert werden. Darunter auch die Schießerei von Singen am 3. Mai 1977. Wolfgang Seliger hofft, die Kinder mit einem besonderen Ausflug über die Geschichte ihrer eigenen Stadt aufzuklären.
Das Archiv ist das Gedächtnis der Stadt
Das Programm beginnt für die Kinder mit einer Führung durch das Archiv der Stadt. Sie bekommen Zugang zum Keller, der für Besucher sonst geschlossen bleibt. Hier stehen über viele Meter hinweg Rollregale, die Geschichte tragen, die über Jahrhunderte zurückliegt. Stadtarchivarin Britta Panzer präsentiert hier einige historische Dokumente aus ihrer Sammlung, vor allem jene aus der Buchhaltung. Sie gehören zu den ältesten Schriften und sind teilweise noch auf Pergamentpapier formuliert.
Für den Besuch der Kinder sind an diesem Tag aber vor allem die Dokumente zur Schießerei von Singen 1977 interessant. Um sich den Fall zu veranschaulichen, laufen sie mit Wolfgang Seliger durch die Stadt genau an den Ort, wo sich die Szenen des Falls abspielten.

RAF-Terroristin schießt auf Wolfgang Seliger
Beim Café Hanser erkundigen sie sich beim Besitzer und dem Personal, was das RAF-Paar in Singen suchte und wie sie aufgehalten wurden. Mit am besten Bescheid weiß sicherlich Wolfgang Seliger, er konstruiert den Fall hier schließlich nach: Eine Frau sah ein verdächtiges Pärchen im Café Hanser frühstücken. Es war die Zeit, in der die Rote Armee Fraktion, kurz RAF, für Schrecken und Terror in ganz Deutschland sorgte. Die Frau lief also zur nächsten Polizeistelle, die sich damals noch in der Innenstadt an der Ecke Hegaustraße/August-Ruf-Straße befand. Hier befindet sich heute ein Modegeschäft, ein eingemeißelter Steinadler erinnert noch an die ehemalige Polizeistelle.
Seliger, dessen Ausbildung zu dem Zeitpunkt nur vier Monate zurücklag, wollte der Sache nachgehen. Mit seinem Kollegen habe er die Verdächtigen nach ihrem Ausweis gefragt, diese hätten ganz ruhig reagiert. Sie seien aus Stuttgart angereist, müssen ihre Ausweise aber aus ihrem Auto holen. Seliger und sein Kollege begleiten sie zum Auto, das sie wohl nicht finden konnten. Schließlich finden sie das Auto. Als Wolfgang Seliger mit dem Konstanzer Kennzeichen die Falle erkennt, greift er zur Schusswaffe. Doch in dem Moment sei er schon überwältigt worden.
Der inzwischen pensionierte Polizist erinnert sich an die Szenen, die sich in sein Gedächtnis gebrannt haben: Verdeckt hat die RAF-Terroristin Verena Becker ihren Revolver gezogen. Sie dreht sich um und schießt ihm die Waffe aus der Hand. Er fällt zu Boden, sie schießt sieben Mal auf ihn. Seinem Kollegen wurde vom zweiten RAF-Terroristen und Beckers Partner, Günter Sonnenberg, in den Oberschenkel geschossen. Der Polizist sucht hinter einem Auto Deckung. Die beiden Terroristen versuchen zwar, mit einem gestohlenen Auto zu fliehen, werden aber schließlich von Beamten überwältigt und festgenommen.

Terroristen wurden wegen Mordes gesucht
Rasch war klar: Verena Becker und Günter Sonnenberg wurden für die Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seinen zwei Begleitern gesucht. Die RAF-Terroristen waren mit dem Zug von Bonn nach Singen gefahren, um über die wenig kontrollierte sogenannte grüne Grenze in die Schweiz zu gelangen. Dort wollten sie sich mit weiteren Mitgliedern der RAF treffen, welche die Schweiz ebenfalls als Rückzugsort nutzten.
Für die Kinder war der Fall spannend, wie sie nach dem Ausflug in Singens Innenstadt sagen. Von den Großeltern haben sie schon einige Anekdoten zur RAF gehört. Sie hätten aber nicht gedacht, dass in den Gebäuden, an denen sie so oft vorbeilaufen, so viel Geschichte steckt. „Das könnte zu denken geben: Wie oft läuft man durch die Singener Innenstadt, ohne zu wissen, welche lange Geschichte sich hinter den Geschäften und Straßen verbirgt?“, sagt Seliger. Er weiß: Auch heute noch verstecken sich hier Spuren, die einen zweiten Blick wert sind.