Sieben Schüsse wurden auf ihn abgefeuert. Wolfgang Seliger überlebte nur mit viel Glück. Das Geschehen liegt fast 40 Jahre zurück. Am 3. Mai 1977 meldete eine Frau in der Polizeistation Singen, sie glaube, ein Terroristenpärchen im Café Hanser gesehen zu haben. Wolfgang Seliger war damals ein junger Polizist. Erst vier Monate zuvor hatte er seine Ausbildung beendet. Mit seinem Kollegen Uwe Jacobs, der ein Jahr älter war, machte er sich zur Personenkontrolle auf. "Wir waren nicht aufgeregt", erzählt der den Schülern der 13. Jahrgangsstufe bei seinem Besuch an der Mettnau-Schule. Das Attentat auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback lag gerade einen Monat zurück.
Knut Folkerts, der als Mittäter genannt wurde, hatte seine Kindheit in Singen verbracht. In der Wache seien ständig Hinweise aus der Bevölkerung eingegangen, Folkerts sei in der Stadt gesehen worden. Insofern gehörte eine Personenkontrolle im Frühjahr 1977 zur Routine der Polizisten. Das Pärchen im Café reagierte ruhig, erzählt Seliger weiter. Sie gaben an, aus Stuttgart angereist zu sein. Die Ausweise lägen noch im Wagen. Die beiden Polizisten beschlossen, das Paar zum Auto zu begleiten. Erst als der Weg aus der Fußgängerzone in Seitenstraßen ungewöhnlich lange dauerte und die beiden das Fahrzeug nicht zu finden schienen, wurde Seliger misstrauisch.
Schließlich hielten die beiden jungen Leute vor einem Wagen mit Konstanzer Kennzeichen. Seliger sagt: "In dem Moment war mir klar, das ist eine Falle." Er wollte seine Waffe ziehen, doch die Terroristen Günter Sonnenberg und Verena Becker feuerten mit großkalibrigen Waffen auf die jungen Polizisten. Der erste Schuss traf Seligers Hand. Er verlor einen Finger, seine Waffe fiel aus der Hand. Günter Sonnenberg feuerte sein ganzes Magazin auf Seliger ab. Verena Becker schoss auf seinen Kollegen Uwe Jacobs. Sein Leben verdanke er nur der Tatsache, dass alle Schüsse aus einem flachen Schusswinkel auf ihn abgegeben wurden. "Wir hatten keine Chance gegen die beiden", erzählt Seliger in der Rückschau. Die Terroristen seien im Jemen an scharfen Waffen ausgebildet worden. Die damalige Ausbildung der Polizisten an der Waffe hätte nicht im Geringsten mithalten können.
Schließlich konnten die beiden Terroristen gefangen genommen werden – nur mit einer großen Portion Glück nach einer chaotischen Verfolgungsjagd durch die Stadt. "Nur Pannen und Zufälle" habe es gegeben, so Seliger. Sonnenberg wurde durch einen Kopfschuss gestoppt, Becker durch einen Schuss in den Oberschenkel. Alle gemeinsam verdankten sie ihr Leben der hervorragenden Leistung der Ärzte im Krankenhaus Singen.
Nach der traumatischen Erfahrung arbeitete Seliger weiter im Polizeidienst. Eine Auszeit oder psychologische Betreuung habe es damals nicht gegeben. Lange Zeit sei totgeschwiegen worden, was an diesem Tag in seinem Leben passiert ist. In der Familie, im Bekanntenkreis, unter Kollegen. Viele Jahre später begann Seliger davon zu erzählen. Und er spürte, dass es ihm gut tat. Mittlerweile hat er öffentlich davon erzählt. Auch im Fernsehen, in Talkshows. Bei Biolek, bei Anne Will.
Im Vorfeld seines Besuches hatte Seliger die Lehrerin Monika Engler gefragt, wieviel die Schüler über die RAF wissen. Ein Referat zu den Zielen der terroristischen Vereinigung habe es gegeben. "Aber hauptsächlich sind Sie meine Unterrichtseinheit", sagte die Lehrerin lachend. Die Rechnung schien aufzugehen. Die Schüler verfolgten Seligers Schilderung still, aufmerksam und mit sichtlicher Anteilnahme.
Günter Sonnenberg wurde 1992 begnadigt. Wie Seliger damit klar komme, wollen die Jugendlichen wissen? Das sei eben der Rechtsstaat, antwortet der Polizist ruhig. Sonnenberg wurde wegen versuchten Mordes angeklagt und hat seine Strafe verbüßt. "Doch Kopfweh wünsche ich ihm sein Leben lang", sagt Seliger. Inzwischen hätte er das Trauma verarbeitet, alleine. Seinen Ruhestand möchte er nun genießen, erzählt er den Jugendlichen. Freundschaften zu pflegen, das sei ihm wichtig und das Leben zu genießen, in den Bergen und mit gutem Essen. Hat er es jemals bereut, Polizist geworden zu sein? Nein, niemals, antwortet er mit Bestimmtheit. Auch der Gedanke aufzuhören, sei ihm nie gekommen.
Die Terroristen
Die Rote Armee Fraktion (RAF) war eine linksextremistische terroristische Vereinigung in Deutschland. 1970 wurde sie von den Anführern der sogenannten ersten Generation Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler und Ulrike Meinhof gegründet. In den nächsten 20 Jahren schlossen sich ihr zwischen 60 bis 80 andere Personen an. Die RAF war verantwortlich für 33 Morde an Führungskräften der Politik, Wirtschaft und Verwaltung. Im Mai 1977 wurden die RAF Terroristen Günter Sonnenberg und Verena Becker nach einer Personenkontrolle in Singen gefangen genommen. (rei)