Wie soll ein Gericht entscheiden, wenn es zwar viele Zeugen, aber keine Beweise gibt und damit Aussage gegen Aussage steht? In zwei Prozesstagen und mit elf Zeugen versuchte das Landgericht Konstanz herauszufinden, ob diese Vorwürfe stimmen: Ein 43-Jährigen aus dem westlichen Landkreis Konstanz soll zwischen 2014 und 2018 seine damals zwischen elf und 14 Jahre alte Tochter mehrfach sexuell missbraucht haben. Der Staatsanwalt klagt acht Fälle an. Dabei soll der Vater mehrmals Geschlechtsverkehr mit ihr gehabt und sie unter anderem dazu gebracht haben, ihn zu befriedigen. Außerdem soll er sie 2020 geschlagen haben.
Bis auf die Schläge bestritt der Angeklagte allerdings die Vorwürfe und zeigte sich schockiert über die Anschuldigungen. Während die Eltern die Vorwürfe der Tochter als Racheakt sahen, weil sie ihr den Umgang mit einem Freund und einen Urlaub verboten haben, sagt die Tochter, sie sei schon immer vom Vater geschlagen und getreten worden, und wirft ihm die Missbräuche vor.
Im Sommer 2021 wurde Anzeige erstattet
Nachdem sich die Tochter 2020 nach den Schlägen des Vaters der Großtante anvertraut und bei einer Kinderärztin die Erlebnisse geschildert hatte, brachte sie das Jugendamt in einer Einrichtung unter. Da auch eine Gefahr für ihre jüngere Schwester gesehen wurde, kam diese, nachdem im Sommer 2021 Anzeige erstattet und Ermittlungen aufgenommen wurden, ebenfalls in eine Pflegeeinrichtungen. Die ältere Tochter, das Opfer, lebt heute bei der Großtante und hat nach einer gescheiterten Beziehung im März eine Tochter zur Welt gebracht.
Die Tochter schilderte in der richterlichen Vernehmung ohne erkennbare Scham und Erschütterung in drastischen Worten und detailreich, was der Vater ihr Schlimmes angetan haben soll. Die Vernehmung wurde im Oktober 2021 auf Video aufgezeichnet und bei der Verhandlung gezeigt. Eine Richterin und die Gutachterin Judith Arnscheid, die sie vernahmen, fragten dabei immer wieder nach genauen Zeitangaben und Details der Taten, um die Glaubwürdigkeit zu prüfen.
Die damals 16-Jährige konnte zu den Zeitpunkten der Missbräuche keine genauen Angaben machen. Sie erinnere sich nur an Ausschnitte und habe Bilder von den Taten im Kopf. Sie habe versucht, die Taten zu vergessen, weil ihr Vater gesagt habe, es gebe Ärger, wenn sie es jemandem erzähle. Sicher war sie, dass sich eine Tat abgespielt hat, als die Mutter für eine Operation sechs Tage im Krankenhaus war.
„Wie kommt es zu solchen Vorwürfen?“, fragte der Vorsitzende Richter Joachim Dospil den Angeklagten. Der 43-Jährige konnte sie ihm nicht beantworten. Der Vater bestritt die Missbräuche, er würde so etwas nie machen. Es stimme, dass er seiner Tochter eine Ohrfeige gegeben habe, weil sie seine Frau beleidigt habe. Dass ihm die Tochter sexuellen Missbrauch vorwerfe, schockiere ihn. „Unser Verhältnis war gut, bis der Freund kam“, erklärte der 43-Jährige. Die Beziehung zu dem Freund hätten die Eltern aber nicht gutheißen können.
Beziehung zum Freund sei wie eine Sucht gewesen
Sie sei wie eine Sucht gewesen, die Tochter habe nächtelang gechattet. Die Eltern seien gegen diese Beziehung gewesen, weil der Freund ihrer Meinung nach wesentlich älter als die Tochter war, in Serbien lebte und sie zu sich holen wollte. Die Tochter sei deshalb abgehauen, habe Geld und ein Pferd gestohlen, mit dem sie zu ihm reiten wollte. Wenn sie ihr das Handy wegnahmen, um den Kontakt zu unterbinden, sei sie ausgeflippt. Aufgrund der Schwierigkeiten mit der Tochter habe er sich psychologische Hilfe gesucht.
Die Mutter, die als Zeugin aussagte, bestätigte die Angaben ihres Mannes. Sie sagte über ihre Tochter, dass sie schon immer ein schwieriges Kind gewesen sei. Sie habe viel Aufmerksamkeit gebraucht, sei unruhig und impulsiv gewesen, habe oft Streit mit anderen Kindern gesucht, andere gehänselt und gelogen.
Die Aussagen der vielen Zeugen und schriftlichen Berichte erbrachten keinen objektiven Beweis der Missbräuche. Richter, Staatsanwalt und der Verteidiger Michael Busching fragten immer wieder nach, um herauszufinden, ob die Vorwürfe stimmen. Damit stand die Aussage der Tochter gegen die Aussage des Vaters. Ausschlaggebend für das Gericht war die Aussage der Gutachterin und Psychologin Judith Arnscheid.
Die Psychologin schenkte der Tochter Glauben, weil sie der Meinung war, dass die heute 18-Jährige nicht in der Lage sei, ein so komplexes und detailreiches Lügengebilde zu erschaffen. Außerdem sah die Gutachterin kein ausreichendes Motiv, warum die Tochter die Missbräuche hätte erfinden sollen. Die Details der Vorwürfe seien bei allen Befragungen gleich geblieben, sie habe Interaktionen beschrieben und sogar ein eigenes Mitwirken an den Missbräuchen eingeräumt. Das alles spreche dafür, dass die Tochter die Wahrheit sage.
Staatsanwalt sieht die Vorwürfe als erwiesen an
Der Staatsanwalt sah, ebenso wie die Anwältin der Tochter, aufgrund der Einschätzung der Gutachterin, die Tatvorwürfe im Wesentlichen als bewiesen an. Er forderte für den mehrfachen sexuellen Missbrauch einer Schutzbefohlenen eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Verteidiger Michael Busching war anderer Ansicht: Er sah ein Motiv der Tochter darin, dass sie sich an den Eltern habe rächen wollen. Außerdem habe sie laut den Zeugenaussagen schon vorher gelogen und konnte sich das Wissen über die Details der Missbräuche auch im Internet besorgt haben.
Das Gericht folgte aber den Argumenten der Gutachterin und glaubte der Tochter. „Es gibt keinen Raum für Zweifel“, sagte Richter Joachim Dospil. Das Gericht sah den Missbrauch in fünf Fällen und die Körperverletzung als erwiesen an. Es blieb mit einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten unter der Forderung des Staatsanwalts, unter anderem, weil der Vater bei den Missbräuchen keine Gewalt angewandt hatte und die Taten schon länger zurücklagen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Der Richter wünschte dem Vater, dass er die Taten zugeben und damit wieder Frieden in die Familie einziehen könne. Danach sah es vorerst nicht aus: Die Mutter stürmte aus dem Gerichtssaal und die Tochter brach in Tränen aus.