App und Radio warnen vor Blitzeis und Eisregen. Die angekündigte Kälte hat den Lastwagen übernommen: Eiszapfen hängen von der Sonnenblende. In der Fahrerkabine kämpft die Heizung gegen die Kälte an. Im Lastwagen geht es auf schlängelnden Straße einen bewaldeten Hügel hinauf. Zwölf Tonnen liegen auf der Straße. Was aber, wenn der Laster rutscht?

Silvio Henke kennt diese Situation: „Schlittschuhlaufen ist nichts dagegen.“ Er steuert den Lastwagen. In Arbeitskleidung und neongelber Jacke sitzt er in der Kabine. Im gleichmäßigen Puls des Blinkers wartet Silvio Henke den Verkehr ab, um auf die Straße nach Frauenfeld abzubiegen. An den vorbeifahrenden Autos spritzt Wasser von den Reifen. „Solange dies geschieht und die Autos schnell fahren, kann es nicht glatt sein“, sagt Silvio. Er liest den Verkehr wie andere Buchseiten.

Vor der Fahrt ist die Windschutzscheibe noch vereist.
Vor der Fahrt ist die Windschutzscheibe noch vereist. | Bild: Rasmus Peters

Pyjamas und Sprengstoff

Zurück zum Anfang der Tour: Der SÜDKURIER-Reporter trifft ein, Silvio Henke steht schon bereit. „Ah, der von der schreibenden Kunst. Ich bin von der fahrenden Kunst“, sagt er süffisant. Es folgt eine Runde durch die Verladehalle bei Transco, ein Speditions- und Logistikunternehmen mit Sitz in Singen. In über 20 Laderampen wird dort Ware in die bereitstehenden Fahrzeuge verladen. Silvio begrüßt seine Kollegen. „Ich komm inne Zeitung“, berichtet er in brandenburgischem Dialekt mit alemannischer Färbung. „Drücksch die Daumen, dass es heute keen Blitzeis gibt“, wendet er sich an denn Reporter.

Seit November fährt Silvio eine neue Route. Sie führt von Singen nach Frauenfeld, von dort nach Stockach, von Stockach nach Frauenfeld und wieder zurück nach Singen. Er scheint die Route zu mögen: „Die Tour gebe ich nicht mehr her“, wiederholt er immer wieder. Was er transportiert, sei ihm egal. Heute befördert er Pyjamas und Sensoren, es war auch schon mal Sprengstoff.

Silvio Henke belädt sein Fahrzeug an der Landerampe. Die Kartons stehen schon bereit.
Silvio Henke belädt sein Fahrzeug an der Landerampe. Die Kartons stehen schon bereit. | Bild: Rasmus Peters

Draußen zieht die Kälte übers Land. Im Führerhaus herrscht aber angenehme Wärme. Wie in der Winterstube am Kamin. Das aufgeräumte Fahrerhaus hält ein ganzes Sammelsurium bereit: Westen, Taschenlampe, Süßigkeiten, Zigaretten, Geruchsneutralisierer. Es riecht wie in einem alten Wohnzimmer. Passend dazu plaudert Silvio Henke die ganze Fahrt. Er erzählt von sich, seinen Söhnen, dem Lastwagenfahren im Allgemeinen und von den Kollegen, die im tiefsten Winter auf vereisten Straßen in Alaska und Sibirien über zugefrorene Seen teils lebenswichtige Waren ausliefern. Ob ihn das nicht auch reizen würde? Die Antwortet lautet: Nein.

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Mit zwei Standbeinen vom Osten in den Südwesten

Silvio Henke kommt aus der ehemaligen DDR. In seiner Jugend war er Sprinter im Staffellauf. Jährlich hat er an den Spartakiaden mitgemacht. Alles was er schildert, deutet auf ein buchstäblich bewegtes Leben. Außerdem unterhielt er im Osten zwei Clubs, sogenannte Wanderdiscos. Sein Vater war Schreiner, seine Mutter technische Zeichnerin. In Cottbus machte er eine Ausbildung zum Schweißer. Als sein Chef fragte, wer im Betrieb einen Lastwagen-Führerschein machen wolle, meldete sich der damals siebzehnjährige Silvio Henke. „Was ich hab, hab‘ ich“, kommentiert er seine Entscheidung, „als zweites Standbein.“

Nachdem ein Arzt ihm verkündete, er könne den Schweißer-Job nicht dauernd machen, nachdem wieder Metallsplitter aus dem Auge entfernt wurden, verlagerte er sich auf eben dieses zweite Standbein. So kam er zu Transco. Das war 1994.

Bei Post geht es zu wie am Flughafen

In Frauenfeld angekommen, lädt Silvio bei der Post alles aus. Das Tor öffnet sich automatisch. „Eigentlich müssten wir uns hier erst anmelden, aber die kennen mich schon.“ Natürlich. Beim Anfahren der Laderampe lehnt er sich aus der Kabine. Er hat seine Orientierungspunkte. Kaum ausgeladen, verschwinden die Waren in Windeseile im Verdauungstrakt der Fließbänder. Die Sortierhalle der Post gleicht der Gepäckabfertigung eines Flughafens. Überall blinken Lichter und Menschen in gelben und orangenen Westen schieben beladene Wagen vor sich her und bringen Kartons aus Fahrzeugen.

Silvio Henke belädt sein Fahrzeug bei Baumer in Frauenfeld.
Silvio Henke belädt sein Fahrzeug bei Baumer in Frauenfeld. | Bild: Rasmus Peters

Von dort geht die Fahrt weiter zur Firma Baumer. Ihre Hauptniederlassung befindet sich ebenfalls in Frauenfeld. Es gilt, den Standort Stockach zu beliefern. Während Silvio Henke einlädt, läuft das Radio weiter. Die Musik bleibt unbemerkt. Unbemerkt wie seine Arbeit, findet der Fahrer. Die Notwendigkeit seiner Arbeit würde in der Gesellschaft oft übersehen. Irgendwann reihen sich Lastwagenfahrer und Pflegekräfte in die Liste der bestbezahlten Jobs ein, hofft er.

Auch wenn das bisher nicht so sei, mache er seine Arbeit gerne: „Ich bin jetzt 56. Den Job wechsle ich jetzt nicht mehr, bis zur Rente.“ In seiner Karriere hat Silvio Henke sämtliche Fahrzeugklassen erlebt. Bis zuletzt fuhr er einen 40 Tonnen Anhänger-Zug, „die Königsklasse“, wie er findet. Er nennt es liebevoll „sein Auto“. Spricht er davon, hat es den melancholischen Nachklang einer vergangenen Zeit.

Silvio Henke vor dem Speditower am Grenzübergang in Thayngen.
Silvio Henke vor dem Speditower am Grenzübergang in Thayngen. | Bild: Rasmus Peters
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Zoll, Eis und Schnee

An den Grenzübergängen plaudert Silvio Henke mit dem Zollbeamten, der seine Papiere prüft. Wie bei der Post gilt: Man kennt sich. Kaum losgefahren, stoppt der Laster. Ein früherer Arbeitskollege sorgt dafür. Wie könnte es anders sein: Man kennt sich. Es ist „Sveni“. Silvio Henke fuhr mit ihm für Siemens nach England. Jetzt trifft er ihn an einem verschneiten Grenzposten zwischen deutscher und schweizerischer Provinz.

In Stockach angekommen, ist es beim Ausladen bereits dunkel.
In Stockach angekommen, ist es beim Ausladen bereits dunkel. | Bild: Rasmus Peters

In der Dämmerung fährt der mächtige Transportlaster Sensoren aus Frauenfeld nach Stockach. Der Tunnel vor Schaffhausen ist gesperrt. Ein Stau bremst die Fahrt aus. Weil sie sich dadurch verlängert, würde sich manch einer vielleicht aufregen. Silvio Henke deutet stumm auf ein Schild am Armaturenbrett, auf dem steht „Bevor ich mich aufrege, ist es mir jetzt lieber scheiß egal“.

Den Verkehr lesen

In Stockach heißt es: Kisten ausladen – und rein mit dem Leergut. Es sieht aus wie vorher. Das Spritzen von den Reifen sieht man jetzt nicht mehr so gut, also öffnet Silvio das Fenster einen Spaltbreit und horcht, ob es spritzt. Es spritzt, also ist er beruhigt. Tagsüber fahre er lieber, da sei die Aussicht schöner. Der Vorteil nachts: Wegen des Lichts sehe man den Gegenverkehr schneller. So beobachtet er, als wir wieder unterhalb des Hügels stehen, die roten und weißen Scheinwerfer, wie sie bergauf ins Dunkel fahren. Wieder liest Silvio den Verkehr.

Silvio Henke vor der Fahrt im Gespräch mit einem Kollegen.
Silvio Henke vor der Fahrt im Gespräch mit einem Kollegen. | Bild: Rasmus Peters

Die gemeinsame Fahrt endet. Angekommen auf dem Speditionshof in Singen fragt Silvio Henke rhetorisch: „Ich habe einen geilen Job, oder?“ Das Blitzeis blieb aus, die Ware hat den Adressaten erreicht. Jetzt noch den Tank füllen. Dies sei wichtig, um für alles vorbereitet zu sein, gerade im Winter. Und am Ende fährt der Reporter von der schreibenden Kunst den Mann nach Hause, der von Berufs wegen häufig hinterm Steuer sitzt. Die Erkenntnis: Wer solche Transporte Tag für Tag bewältigt, gehört wirklich zur fahrenden Kunst.