Nicht nur in den größeren Städten Deutschlands gehen derzeit Menschen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Auch in kleineren Gemeinden zeigt sich, dass sich Widerstand regt: Rund 300 Teilnehmer haben sich nun vor dem Steißlinger Rathaus zusammengefunden, um sich für eine freiheitlich demokratische Grundordnung und gegen Hass, Hetze und Menschenverachtung auszusprechen. Unter ihnen waren auch Altbürgermeister Artur Ostermaier und die Landtagsabgeordnete Dorothea Wehinger.

Zur Demonstration aufgerufen hatten die Altpfadfinder Steißlingen mit Unterstützung der Gemeindeverwaltung. „Demokratie ist kein Selbstläufer. Das wird vielen aktuell klar“, erklärte Willi Streit, Sprecher der Altpfadfinder, zu Beginn der Veranstaltung. Er rief alle dazu auf, das Wahlrecht bei den Europa- und Kommunalwahlen im Juni zu nutzen.

Auch der Bürgermeister positioniert sich

Bürgermeister Benjamin Mors zeigte sich beunruhigt angesichts menschenverachtender Ideen, die den Rechtsstaat ins Wanken bringen könnten. Die Corona-Pandemie habe die politischen Ränder gestärkt. Die Demonstration in Steißlingen zeige jedoch, dass es nicht nur in den großen Städten, sondern auch in kleinen Gemeinden eine klare Haltung gegenüber diesen Ideen gebe. 79 Jahre nach dem Ende des Nazi-Schreckensregime sei die Antwort ein klares Nein und ein „Nie wieder“.

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An die Adresse von Politikern gerichtet unterstricht Mors, dass diese besser kommunizieren müssten, damit die politischen Ränder nicht weiter gestärkt würden. „Hass und Hetze darf nie das Leitmotiv von politischen Entscheidungen sein“, machte Mors klar. Sein Aufruf lautete: „Kein Platz für radikales Gedankengut, kein Platz für Rechtsextremismus und kein Platz für die Feinde der Demokratie!“

Beispiele für gelungene Integration

Alexander Duran Arpaci und Farid Rassouli kamen ebenfalls zu Wort und zeigten zwei gelungene Beispiele von Integration. Arpaci, als Deutsch-Türke in Berlin aufgewachsen, berichtete von seinen negativen Erfahrungen als Kind einer Gastarbeiterfamilie, aber auch von den Chancen und der Unterstützung, die er von Lehrern, Professoren und Trainern erfahren habe und wofür er sehr dankbar sei. „Wir leben in einem der besten Länder der Welt. Deutschland ist eine Demokratie, in die sich jeder einbringen kann, darf und sollte“, so seine Überzeugung. Wichtig sei es nun, keine Toleranz gegenüber Intoleranz zu zeigen.

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Farid Rassouli kam 2015 als 14-Jähriger aus Afghanistan nach Deutschland, weil in seiner Heimat die Taliban-Herrschaft ein freies Leben unmöglich machte. Nach der abgeschlossenen Ausbildung als Baumschulgärtner besucht er nun die Meisterschule in Stuttgart-Hohenheim. Wichtiger Teil dieser Erfolgsgeschichte war die Aufnahme in eine Pflegefamilie. Frank und Martina Bichsel, die ihn 2016 aufgenommen hatten, bezeichnet Rassouli inzwischen als seine deutschen Eltern. Der heute 23-Jährige sieht es als seine Aufgabe, auch zurückzugeben. So engagiert er sich unter anderem seit fünf Jahren als ehrenamtlicher Dolmetscher bei der Gemeinde.

Zeitzeuge spricht von Schrecken der NS-Zeit

Für den bewegendsten Moment der Veranstaltung sorgte Hubert Zimmermann. 1928 in Steißlingen geboren und seit 1971 dort auch wieder ansässig, ist der Bildhauer einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen des NS-Regimes. Er berichtete von einer Szenerie, die er als zwölfjähriger Schüler 1940 in Steißlingen beobachtete: Einer jungen Frau sei der Kopf kahl geschoren worden, sie sei als „Polenhure“ beschimpft und im Dorf herumgeführt worden. Genauso entsetzlich wie die öffentliche Demütigung empfand Zimmermann damals die schweigende Menge, die sich dem Zug durch das Dorf anschloss. „Wenn etwas in die falsche Richtung läuft, müssen wir als Demokraten den Mund aufmachen und unsere Meinung äußern“, lautete sein Aufruf.

Für den bewegendsten Moment der Veranstaltung sorgte Hubert Zimmermann, einer der letzten Zeitzeugen des NS-Regimes.
Für den bewegendsten Moment der Veranstaltung sorgte Hubert Zimmermann, einer der letzten Zeitzeugen des NS-Regimes. | Bild: Sandra Baindl

Frederik Metz, Jugendvertreter in Steißlingen, bekräftigte den Wunsch seiner Generation nach einer Gesellschaft, in der jeder willkommen sei und seine Meinung sagen könne. Er hoffe, dass die Demokratie mit allen Rechten und Pflichten erhalten bleibe. Zum Schluss der Veranstaltung betonte Pfarrerin Martina Stockburger, dass nun die Zeit gekommen sei, gegen Hass, Hetze und Verfolgung aufzustehen und zum Ausdruck bringen, dass diese Meinung nicht die Mehrheit widerspiegele. Gleich am Anfang des Grundgesetzes sei festgelegt, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Dies gelte für jeden Menschen. Es gehe darum, mit Anstand und Würde für Vielfalt und Demokratie zu streiten.