Erstmals gehören weniger als die Hälfte aller Deutschen einer Kirche an. Warum lohnt es sich Ihrer Meinung nach, auch heute noch seinen Glauben als Mitglied der Kirche zu leben?
Ich mache einen sehr großen Unterschied zwischen der Zugehörigkeit zur Institution und Menschen, die sich in irgendeiner Form von Gott haben berühren lassen. Diese Kirche wird für mich immer existieren, einfach weil ich daran glaube, dass Gott zum Menschen spricht. Um konkret auf die Kirche in Deutschland zurückzukommen: Durch ihren großen Reichtum kann sie viel Gutes tun. Und ich glaube, es rentiert sich auf jeden Fall irgendwo dazu zu gehören, wo Menschen für andere Menschen etwas Gutes tun.
Wie haben Sie persönlich zum Glauben gefunden?
Mein Vater war evangelisch, meine Mutter katholisch, aber ohne enge Bindung an eine Kirchengemeinde. Natürlich hatte ich Religionsunterricht an der Grundschule in Stockach und am Gymnasium, habe Erstkommunion und Firmung gemacht. Aber meine ganz persönliche Glaubenserfahrung habe ich als 15-Jährige an der Beerdigung einer Frau, die für mich eine wichtige Bezugsperson war, erlebt. Einerseits war ich total geschockt, aber gleichzeitig hatte ich einen unglaublichen inneren Frieden und die Überzeugung gespürt, dass sie ist jetzt bei Gott ist.
Hat Sie in Stockach etwas besonders geprägt auf ihrem Glaubensweg?
In Stockach war ich mit einer ganzen Reihe anderer Leute im Jugendtreff der evangelischen Kirche. In der evangelischen Gemeinde, aber auch im Gymnasium, habe ich viele engagierte Menschen gesehen, die aus ihrem Glauben heraus gelebt haben und für ein echtes Lebensengagement standen. Das hat mich dazu gebracht, mir viele Fragen zu stellen. Ich hatte, als ich aus Stockach weg bin, den großen Wunsch in mir, etwas zu finden, was wirklich Sinn macht für mein Leben.
Wie sind Sie dabei fündig geworden?
Nach dem Abitur bin ich als Au-Pair Mädchen nach Marseille gegangen. Damals wollte ich meinen Glauben verstehen. Da ich meinen eigenen katholischen Glauben gar nicht richtig kannte, bin ich dort erst mal zur katholischen Kirche gegangen und einer Jugendgruppe beigetreten. Der Priester, der die Gruppe geleitet hat, hat in der Provence Wochenenden für junge Erwachsene, die ihren Glauben vertiefen wollen, angeboten. Auf dem Weg dorthin saß eine Frau im rosa Pulli mit im Auto. Ich weiß noch, wie sich diese Frau später als Ordensschwester vorgestellt hat. Plötzlich war diese Distanz in meinem Kopf weg, denn diese Frau sah ja aus wie ich.
Ist dabei ihre Entscheidung gefallen, selbst in einen Orden einzutreten?
Als ich das Haus damals betreten habe, hat es sich für mich angefühlt, wie nach Hause kommen. Trotzdem habe ich gehadert. Ich habe gesagt: Lieber Gott, gläubig sein, kein Problem. Katholisch bleiben, da können wir drüber reden. Aber das Ding mit dem Orden machen wir nicht. Da war ich 20. Dann bin ich einen Weg gegangen, der vier Jahre gedauert hat. Zwei Jahre in Marseille und zwei Jahre in Freiburg, bis ich dann vor 31 Jahren tatsächlich in den Orden eingetreten bin.
Inzwischen leiten Sie die Pastorale Dienststelle des Erzbistums Hamburg. Wie sehen Sie als Frau in einer Führungsposition in der katholischen Kirche die Rolle der Frauen in dieser Institution?
Ich teile mit vielen Menschen die Idee, dass die Verteilung der Posten zwischen Männern und Frauen noch lange nicht ausgeglichen ist. Meiner Meinung nach ist das sich ergänzende von Frau und Mann eine unserer größten Chancen überhaupt, um etwas aufzubauen. Deshalb wünsche ich der Kirche, dass der Platz der Frauen noch viel breiter wird. Ich gehe sogar so weit zu sagen, es ist egal ob es Mann, Frau ist, es darf gerne auch divers sein. Für mich gibt es keine Ausgeschlossenen aus dem Projekt Gottes für die Menschen. Was ich aber als Frau in der Kirche auch sagen kann ist, dass ich, bis auf wenige Ausnahmen, nicht erlebt habe, dass ich einen schwereren Stand gehabt hätte als ein Mann.
In Deutschland soll der Synodale Weg zu Reformen in der Kirche führen. Die Meinungen hierüber sind geteilt. Wie sehen Sie diesen Prozess als Mitglied eines französischen Ordens?
Eine Mitschwester von mir ist Nathalie Becquart, die Untersekretärin der Bischofssynode und erste Frau, die im Vatikan mitbestimmen darf. Deshalb weiß ich, dass der Blick aus Rom immer ein bisschen besorgt ist, sobald ein Land anfängt, sein eigenes Ding zu machen. Der letzte Brief aus Rom ist in Frankreich dargestellt worden, als gäbe es ein großes Zerwürfnis zwischen Rom und Deutschland. Ich kann dazu nur sagen: Der Synodale Weg und die Punkte, die dabei besprochen werden, sind richtig. Es darf keine Denkverbote geben. Die Kirche in Deutschland weiß natürlich, dass sie nicht im Alleingang etwas umsetzen kann, was gegen die Lehre der Kirche geht. Der Punkt ist, dass das Besprochene in die Weltsynode einfließen soll. Deshalb verstehe ich die Aufregung nicht. Für mich steht fest: Es muss sich was ändern.
Haben Sie eine Botschaft für Menschen, die sich gerade mit ihrem Glauben schwertun?
Ich möchte respektieren, wenn Menschen von der Institution Kirche verletzt sind. Ich hoffe, dass diese Menschen Ansprechpartner finden, die ihnen helfen können. Was mir, die ich auch nicht rund um die Uhr mit meiner Kirche zufrieden bin, am Herzen liegt, ist, dass es wichtig ist, den Blick immer wieder auf Christus auszurichten. Nicht die Kirche ist das Zentrum meines Glaubens, sondern Gott.