Er sagt noch immer wir. Mit „wir“ meint Andreas Sturm die katholische Kirche, die für ihn wie Vater und Mutter zugleich war. In ihr ist er aufgewachsen, dort wurde er hineingetauft. Er diente als Ministrant und sammelte später Erfahrungen als Gruppenleiter. Schließlich studierte er Theologie in Mainz und wurde Pfarrer. „Wir“ war seine religiöse Heimat und sein Arbeitgeber.

Am 13. Mai dieses Jahres dann brach er mit allem: Sturm, 47, teilte seinem Bischof zwei Dinge mit: Er würde sofort sein Amt als Generalvikar und damit als zweiter Mann im Bistum niederlegen. Zum Zweiten erklärte er ihm und einer erstaunten Öffentlichkeit, dass er aus der katholischen Kirche austreten würde. Das war das Ende des „Wir“. Ein Neustart mit offenem Ausgang.

Die Missbrauchsstudie – Anfang vom Ende

Sturm ging damals im Guten. Er erklärte sich dem Speyrer Bischof Karl-Heinz Wiesemann. Der doppelte Auszug war wohldurchdacht. Andreas Sturm ist eher ein bedächtiger Typ, ein Zuhörer mit dem Ruf des Reformers. Er gehört zu jenen Menschen, deren Körpermaß (193 Zentimeter) sofort auffällt, weshalb sie nicht erst durch Poltern auf sich aufmerksam machen müssen.

Der Gedanke an einen Schlussstrich kam ihm erstmals 2018. Er war soeben als Generalvikar in ein mächtiges Amt berufen worden, als die 27 katholischen Bistümer eine tiefschürfende Studie vorstellten, die den Missbrauch im kirchlichen Raum erstmals auf den Punkt brachte. Mit niederschmetternden Ergebnissen.

„Das war ein harter Schlag für mich,“ erinnert sich Sturm. Mit diesem Ausmaß an Missbrauch von Kindern und jugendlichen hatte er nicht gerechnet. Erste Zweifel stellten sich ein, ob die katholische Kirche – seine Kirche – das je in den Griff bekommen würde. So begann sein allmählicher Abschied.

Vom Speyerer Dom nach Singen

Dann die zweite Überraschung: Sturm schließt sich der altkatholischen Kirche an, die besonders in Südbaden stark ist. Nach einem Praktikum startete er am 1. August in der Kirche St. Thomas in Singen. Hier wird er auch wohnen und neben der Singener Stadtgemeinde auch Christen in Meßkirch sowie in Sauldorf (Kreis Sigmaringen) betreuen.

Seine neue Kirche hat – wie fast alle Kirchen – ein bewegte Geschichte. So stammen die Bänke mit den geschwungen geschnitzten Wangen aus der alten Garnisonskirche, die früher auf dem Hohentwiel stand; da Berg und Burg evangelisch sangen, war auch die Burgkirche gut lutheranisch. Napoleon ließ die damals noch württembergische Feste schleifen – die Bänke wurden zuvor abgebaut und ins damalige Dorf Singen gebracht. Heute sitzen Alt-Katholiken auf dem geretteten Berggestühl.

„Einige Freundschaften liegen jetzt erst einmal auf Eis.“
Andreas Sturm

Wir treffen uns im Garten des Pfarrhauses, das an der lärmigen Singener Freiheitsstraße liegt. Der Garten liegt nach hinten, man hört den Verkehr nur noch als fernes Summen. Sturm freut sich auf den Reporter. Er gießt Kaffee ein und wirkt entspannt. „Ich will nicht nachtreten“, sagt er. Seine Freunde staunten, als er den radikalen Wechsel bekanntgab. „Einige Freundschaften liegen jetzt erst einmal auf Eis“, meint er leise. Doch ist er mit sich im Reinen, das spürt man. Er konnte und wollte keine Positionen verkünden oder durchdrücken, von denen er nicht mehr überzeugt ist.

Segen hinter verschlossenen Türen

Eine seiner Positionen: Andreas Sturm ist Reformer, er sieht in der alten Kirche einen großen Nachholbedarf. Vor einem Jahr setzte er sich öffentlich für die Segnung von Homosexuellen ein. Und er praktizierte sie auch: Wenn ihn zwei Frauen oder zwei Männer um Zuspruch für ihre Verbindung baten, dann richtete er eine Feier aus und spendete ihnen den Segen.

Freilich musste er das hinter verschlossener Tür tun. Einige Gläubige störten sich an diesem sakralen Akt und zeigten ihn in Rom an. Also musste der Mesner das Portal verriegeln, als ob der Priester und das Paar etwas Verbotenes tun würden. Sturm hat dieses Versteckspiel satt. In St. Thomas darf er zwei lesbische Frauen unter den Segen Gottes stellen, ohne dass ihm jemand einen Strick dreht.

Für die Gesichtswahrung zuständig

In seiner exponierten Position in Speyer war das besonders schwierig. Als Generalvikar rangierte er als Nummer zwei im Bistum Speyer. Er war Chef der Verwaltung, er kannte die Finanzen, das Personal, die Interna oft besser als sein Bischof. Auch Missbrauchsfälle gingen über seinen Schreibtisch, Altlasten und Akten.

„Ich schämte mich“, sagt Sturm im Nachhinein – Scham für die schrecklichen Dinge, die vor allem Geistliche angerichtet hatten und die nun scheibchenweise, Bistum für Bistum, ans Tageslicht drängten. „Die schöne Fassade musste gewahrt bleiben“, erinnert er sich. Als Generalvikar war auch er für die Gesichtswahrung zuständig. Aber das ist Vergangenheit. Dieses „Wir“ vermisst er nicht mehr.

Buch landet in den Top Ten der Beststellerliste

Über seine Motive schrieb er ein Buch unter dem Titel „Ich muss raus aus dieser Kirche. Weil ich Mensch bleiben will“ (Herder Verlag). Die Bilanz verkaufte sich gut, sie schaffte es in die Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste. Auffällig: Er rechnet nicht ab, wie andere Großkritiker dies publikumswirksam tun. Vielmehr beschreibt er, wie ihn allmählich die Hoffnung verließ, dass sich etwas ändert. Deshalb musste er sich verändern.

Er wollte unbedingt Priester bleiben

Jetzt ist sein Leben als Seelsorger etwa drei Nummern kleiner – wenigstens, was die äußeren Maße anbelangt. Vom Speyrer Dom, einer der schönsten romanischen Großkirchen, hat es ihn nach Singen verschlagen. St. Thomas ist ein zierliches Gotteshaus mit gut einem Dutzend Bänke; ohne Turm steht es kaum höher da als die umstehenden Gewerbebauten in der wuseligen Innenstadt. Am vergangenen Sonntag zählte er etwa 30 Gläubige, insgesamt ist er in den drei Gemeinden für 350 Gläubige zuständig. Das ist überschaubar. Es fühlt sich echt an, sagt er.

Die alt-katholische Kirche St. Thomas in Singen. Direkt links davon ist das Pfarrhaus.
Die alt-katholische Kirche St. Thomas in Singen. Direkt links davon ist das Pfarrhaus. | Bild: Fricker, Ulrich

Die Kirche passt zu ihm. Ein Wandteppich zeigt den namensgebenden Apostel Thomas; dieser konnte nicht an die Auferstehung glauben, bis er sich selbst davon überzeugt hatte. Er berührte die Wunden von Jesus und war damit von seinen Zweifeln befreit. Auch Sturm konnte seine Zweifel hinter sich lassen, die sich in den vergangenen Jahren häuften. Auch er hat den Finger an den wunden Punkt gelegt.

„Evangelisch kann ich mich mir nicht vorstellen“

Größe ist nicht alles. Für Sturm ging es um die innere Glaubwürdigkeit, die ihm in seiner hohen Position immer mehr abhanden kam. Den doppelten Abschied aus der römischen Kirche vor knapp drei Monaten hat er noch keinen Moment bereut. Die Wohnung in Speyer hat er aufgelöst, die vielen Bücher sind mittlerweile in Singen angekommen.

Er kann sie weiterhin brauchen, schließlich sind die Alt-Katholiken vor allem Katholiken, wenn auch keine römischen. Die Tradition ist dieselbe, die Messe fast identisch. Vor allem: Er kann hier weiter als Seelsorger arbeiten und die heilige Messe feiern. „Evangelisch kann ich mich mir nicht vorstellen“, sagt er, „mir würde die Eucharistie fehlen“. Insofern bleibt er katholisch.

Auch er hat mit dem Zölibat gebrochen

Beim Verlassen der großen Wir-Gemeinschaft war noch etwas anderes im Spiel: Der Generalvikar räumte bei seinem Abschied ein, dass er den Zölibat gebrochen habe. Er habe eine Beziehung zu einer Frau gehabt. Dieses Thema ist für den Mann im besten Alter noch lange nicht beendet. Er schildert freimütig seine Erfahrungen als Priester, etwa wenn er nach schweren und belastenden Tagen nach Hause kam und eine dunkle Wohnung, ein leeres Pfarrhaus betritt.

„Ich habe die Einsamkeit erlebt“, sagt er, „da ist niemand, der einen in den Arm nimmt.“ Oder den man in den Arm nehmen kann. Der 47-Jährige hegt deshalb Heiratspläne. Damit würde er keine Ausnahme bilden: Seine Kollegen in der alt-katholischen Kirche sind in der Regel verheiratet – die meisten haben übrigens denselben Weg durchlaufen wie er. Auch sie konvertierten von der römischen zur alt-katholischen Kirche, wobei Beziehungen oftmals der Auslöser sind.

Und wie es der Zufall will: Im Pfarrgarten steht ein Gerüst mit einer Kinderschaukel. Das Sitzbrett könnte etwas Farbe und das Scharnier etwas Öl vertragen. Dann wäre das Spielgerät von St. Thomas einsatzbereit.