„OOOOMA!“, schallt der Ruf durch den Garten. Dieser Ruf meiner Enkel bedeutet: ich habe etwas ganz Wichtiges entdeckt, das musst du unbedingt sehen! Ich eile herbei und – lerne wieder staunen. Ja, von meinen Enkeln kann ich das wieder lernen, ich kann mich fasziniert von etwas in Bann ziehen lassen, schauen, hören, tasten – etwas entdecken. Das kann das kunstvolle Schneckenhaus sein, das allererste winzig kleine Gänseblümchen auf der Wiese, die Wolke, die aussieht, wie ein Elefant, der Regenwurm, der sich aus dem Boden hervorkringelt, der Käfer, der mit seiner Familie im Spielhaus eingezogen ist oder das kunstvolle Netz der Spinne. Kinder können einfach sprachlos davorstehen und spüren, dass es da etwas gibt, das schön ist, groß, unbegreiflich.
Zur Ruhe kommen
„OOOMA!“ Mitten im Unterwegs-Sein des Tages werde ich angehalten. Der Ruf „Oma“ gibt mir die Einladung, aus der Bewegung heraus innezuhalten – nicht mehr allen möglichen Dingen hinterherzujagen, loszulassen, einfach nur zu sein. Zur Ruhe zu kommen – mich nicht nach außen zu wenden, sondern nach innen. Keine neuen Eindrücke zu sammeln, sondern zu lauschen, zu schauen und zu spüren, was ist. Mir Zeit zu nehmen. Das ist kein Stillstand – ganz im Gegenteil. Solange ich renne, jage, haste, gehen die Kräfte nach außen. Im Stillstehen kann ich nach innen gehen. Nur so werden Träume und Sehnsüchte geboren.
Ich gebe es zu, ich habe das Schauen und Staunen manchmal verlernt. Ich staune und frage oftmals gar nicht mehr, sondern bin stolz auf mein rationales Denken und begegne Geheimnissen wie Rätseln, die es zu lösen gilt. Doch was ich erklären kann, darüber staune ich oft nicht mehr. Was ich verstehe, verliert manchmal seinen Zauber. Damit mache ich mich selbst arm.
Staunen mitten im Alltag zu bewahren
Ich danke meinen Enkeln, die mir helfen, manchen Dingen ihr Geheimnis zu lassen und die mir helfen, ein wenig Staunen mitten im Alltag zu bewahren – Dinge eben nicht für selbstverständlich zu halten und sie einfach schön, groß und unbegreiflich sein zu lassen. Und nicht alles erklären zu müssen. Denn nicht zuletzt gilt: Wer sich nicht mehr wundern kann, für den werden auch keine Wunder geschehen.
Mal ehrlich: wenn du dich fragst, wann du das letzte Mal etwas Wesentliches gesehen hast – vielleicht ist es nur wenige Sekunden her. Wenn du sagen sollst, wann du das letzte Mal wesentlich gehandelt hast –es wird dir sicherlich ein Beispiel aus den letzten Tagen einfallen. Und wenn du dich danach erkundigst, wann du wirklich und wahrhaftig
wesentlich gelebt hast – mein Gott, es wird doch nicht Jahre her sein!
Das Staunen festhalten
Nutzen wir die Zeit dieser Wochen zum Sehen, Staunen und Danken. Halten wir dieses Staunen fest in uns, so, wie die kleine Maus Frederik aus einem Kinderbuch, die Farben, Bilder und Gerüche für den Winter sammelt.
Und wenn ich dann wieder in meiner Arbeit Menschen in Krisensituationen begleiten darf, dann weiß ich: sehen und staunen ist das, was Menschen am Leben erhält, was sie Durststrecken ertragen lässt, was sie zuversichtlich daran glauben lassen kann, dass Zustände sich wieder ändern können.
Ich wünsche Ihnen die Kraft, die Welt mit Kinderaugen sehen zu können.