Ein weithin bekannter Leitspruch lautet: „Wir können niemanden zwingen, eine Botschaft zu hören, die er nicht bereit ist zu empfangen. Aber wir dürfen die Macht der Saat nicht unterschätzen.“ Eine „Saat“ wurde definitiv an der Heimschule Kloster Wald vom Theater Tonne Reutlingen und mit der Aufführung „Hierbleiben… Die Spuren nach Grafeneck“ gelegt. Wegen Regens wurde das Straßentheater in die Klosterturnhalle verlegt.

Eindrückliche Darstellung

Das Theater Reutlingen Die Tonne verleiht den in Grafeneck Ermordeten ein Gesicht.
Das Theater Reutlingen Die Tonne verleiht den in Grafeneck Ermordeten ein Gesicht. | Bild: Sandra Häusler

Mit immenser Intensivität und Ausdruckskraft erzählte das inklusive Ensemble am Theater Reutlingen Die Tonne szenisch, choreographisch, musikalisch und interaktiv die Ereignisse, wie 1940 10 654 Menschen mit Behinderung und Einschränkungen unter dem Deckmantel der Euthanasie (“Gnadentod“) abgeholt und systematisch von den Nazis ermordet wurden. Dass die Darsteller des inklusiven Ensembles selbst mit unterschiedlichen körperlichen, geistigen oder psychischen Handicaps leben, hier aber ihre Persönlichkeit und ihre vielfältigen Talente und Begabungen zeigen, lässt das 90-minütige Stück noch eindrücklicher auf die Zuschauer wirken.

Lebenswert oder nicht? stellte Darsteller Daniel Irschik (links) die Frage an die Zuschauer.
Lebenswert oder nicht? stellte Darsteller Daniel Irschik (links) die Frage an die Zuschauer. | Bild: Sandra Häusler

Maria Stoppel, pädagogische Mitarbeiterin an der Heimschule Kloster Wald, arbeitet seit 2013 auch beim Theater Reutingen mit und hatte sich für die Aufführung am Mädchengymnasium im Rahmen der Tournee stark gemacht. Den Blick in die Zuschauerreihen gerichtet, fragten sich verschiedene Akteure laut, ob ihnen dasselbe Schicksal gedroht hätte, wenn sie ein paar Jahrzehnte früher geboren worden wären. „Ich hoffe, sehr, so etwas passiert nie wieder“, unterstrich eine Darstellerin.

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Abgeholt mit dem grauen Bussen

Mit Glocken läuten die Akteure die Ankunft des Sonderzuges mit „150 Tonnen Last“ ein. Bei der fortlaufenden Aufforderung „Name, Krankheit, Rasse“ nannte der Großteil der Akteure den eigenen Namen und Behinderung. Eindrücklich schilderte das Ensemble, dass aus vielen Orten Menschen mit Behinderung mit dem „grauen Bus“ abgeholt worden sind, im Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb „zu den Duschen“ geführt worden waren, um ihnen zu einem „schönen Tod“ zu verhelfen. Dadurch wurden sie dem Leben entrissen. Viele andere schauten schweigend zu. „Schau auf das Gestern, für das Heute“ mahnten die Akteure vielstimmig. Meist erhielten die Angehörigen einen Brief mit einer fingierten Todesursache.

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Bizarrer Kontrast

Das spürbare Leid für Opfer und Angehörige stand in bizarrem Kontrast mit dem gesungenen „Kein schöner Land“ oder als die Darsteller bei der Ankunft im Zug sangen: „Ich wäre so gerne noch geblieben, aber der Wagen, der rollt“. Die wenigen Requisiten, Rollwagen, Fässer, Glocken, setzte das Ensemble immer wieder unterschiedlich ein. Schmerzlich war die Szene, als nach und nach die Porträts, die die Darsteller um den Hals trugen, erloschen und sich in lodernde Flammen verwandelten. Das Ensemble erinnerte daran, dass hinter jedem der 10 654 Opfer eine einzigartige Person mit einer Persönlichkeit, Fähigkeiten, Ängsten und Träumen steckte.

Buch mit den Namen der Ermordeten

In einem dicken Buch, in dem die Namen der 10 654 in Grafeneck ermordeten Menschen aufgeführt sind, hielten die Heimschülerinnen ...
In einem dicken Buch, in dem die Namen der 10 654 in Grafeneck ermordeten Menschen aufgeführt sind, hielten die Heimschülerinnen nach den eigenen Familiennamen Ausschau. | Bild: Sandra Häusler

Darf man nach solch einer Aufführung applaudieren, fragte sich sicher mancher Zuschauer. Ja, die Leistung der Akteure und die Intensität der Darbietung, sowie die sprichwörtliche Courage, dieses dunkle Stück Deutscher Geschichte landauf und landab immer wieder zu erzählen, verdient eine hohe Anerkennung. Die Schülerinnen hatten nach der Aufführung noch die Möglichkeit, mit den Darstellern zu sprechen. „Es ist ein komisches Gefühl“, fand Schülerin Ina, als sie in einem dicken Buch, in dem alle, in Grafeneck Getöteten namentlich aufgeführt sind, nach dem eigenen Familiennamen schaute. Darsteller Daniel Irschik, wurde selbst mit einer motorischen Behinderung geboren. Er schildert im Gespräch mit dem SÜDKURIER: „Diese Zeit war beklemmend. Wenn wir Schauspieler das Stück spielen, muss man verdrängen, dass es auf Tatsachen basiert.“

Schülerinnen schildern ihre Eindrücke

Dass die Aufführung des Theaters „Hierbleiben… Spuren nach Grafeneck“ an der Heimschule Kloster Wald eine „Saat“ legte, schilderten auch vier Gymnasiastinnen, die sich in ihren aktuellen Klassenstufen mit dem Thema Nationalsozialismus befassen.

Luna Amann, Wald, Klasse 11: „Das bedrückende Gefühl wurde von Anfang an gut dargestellt und übertrug sich. Das habe ich am ...
Luna Amann, Wald, Klasse 11: „Das bedrückende Gefühl wurde von Anfang an gut dargestellt und übertrug sich. Das habe ich am meisten gemerkt, als die Darsteller mit den Glocken geläutet und synchron gerufen haben. Die Kostüme am Ende haben bei mir nochmals das Interesse geweckt, nachzudenken, wie die Leute damals vorgeführt wurden, weil sie nicht der NS-Norm entsprochen haben.“ | Bild: Sandra Häusler
Daria Bechinger, Wald, Klasse 11: „Das bedrückende Gefühl wurde von Anfang an gut dargestellt und übertrug sich. Das habe ich am ...
Daria Bechinger, Wald, Klasse 11: „Das bedrückende Gefühl wurde von Anfang an gut dargestellt und übertrug sich. Das habe ich am meisten gemerkt, als die Darsteller mit den Glocken geläutet und synchron gerufen haben. Die Kostüme am Ende haben bei mir nochmals das Interesse geweckt, nachzudenken, wie die Leute damals vorgeführt wurden, weil sie nicht der NS-Norm entsprochen haben.“ | Bild: Sandra Häusler
Anna Teufel, Pfullendorf, Klasse 9: „Ich fand das Stück sehr bewegend. Ich habe Gänsehaut bekommen. Ich fand das Thema sehr gut ...
Anna Teufel, Pfullendorf, Klasse 9: „Ich fand das Stück sehr bewegend. Ich habe Gänsehaut bekommen. Ich fand das Thema sehr gut umgesetzt und auch sehr stark, wie die Darsteller es herübergebracht haben und dass sie sich an ein solches Thema herangewagt haben.“ | Bild: Sandra Häusler
Anna Kissing, Owingen, Klasse 9: „Es hat sich eine ganz eklige Gänsehaut über den Körper gezogen, wenn man daran dachte, dass es ...
Anna Kissing, Owingen, Klasse 9: „Es hat sich eine ganz eklige Gänsehaut über den Körper gezogen, wenn man daran dachte, dass es einmal Realität war. Ich finde, dass diese Menschen selbst hätten entscheiden dürfen sollen, was sie aus ihrem Leben machen, etwas Bedeutendes. Diese Entscheidung wurde ihnen jedoch abgenommen.“ | Bild: Sandra Häusler