Schon seit langer Zeit ist in der Medizin die Herausforderung bekannt, dass Patienten mit anderen kulturellen Hintergründen andere Anforderungen an medizinische und psychosoziale Behandlungen mitbringen. Das Thema ist seit der Zuwanderung der Gastarbeiter in den 1970er-Jahren auf der Tagesordnung.

Mit der zunehmenden Diversität in der Gesellschaft gewinnen die kultursensiblen Aspekte in der Medizin jedoch weiter an Relevanz. Das beste Beispiel hierfür ist das Oberzentrum Villingen-Schwenningen. 43,1 Prozent der VS-Bürger haben einen Migrationshintergrund.

Damit liegt die Doppelstadt gleichauf mit der Landeshauptstadt Stuttgart. In Berlin hat hingegen nur jeder Dritte Vorfahren mit ausländischen Wurzeln, so das Statistische Bundesamt.

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Deshalb beschäftigt sich das Tannheimer Fachsymposium, das am Freitag und heute in der Neuen Tonhalle in VS stattfindet, mit dem Thema "Kultursensible Aspekte in der Akut- und Rehamedizin". Organisiert wird die Fachtagung, die sich an Ärzte, Psychosoziale Mitarbeiter und Vertreter von Krankenkassen und Förderkreise richtet, von der Nachsorgeklinik Tannheim.

Jan Ilhan Kizilhan bildet Psychologen im Nordirak aus

Den Impulsvortrag gab der renommierte Psychologe Jan Ilhan Kizilhan. Der 53-Jährige ist Leiter des Studienganges Psychische Gesundheit und Sucht und Leiter des Instituts für transkulturelle Gesundheitsforschung an der Dualen Hochschule (DHBW) in Schwenningen. Kizilhan reist regelmäßig in den Nordirak, wo er sich in der Ausbildung von angehenden Psychotherapeuten engagiert.

Jan Ilhan Kizilhan lehrt an der Dualen Hochschule in Schwenningen: "Nur wenn Menschen gesund sind, können sie sich auch richtig ...
Jan Ilhan Kizilhan lehrt an der Dualen Hochschule in Schwenningen: "Nur wenn Menschen gesund sind, können sie sich auch richtig integrieren." | Bild: Rodgers, Kevin

"Die Sprachbarriere ist ein großes Problem."

"Die Ausgangslage ist, dass die Zahl der Patienten mit Migrationshintergrund zunimmt. Das ist nichts Neues. Neu ist, dass wir die interkulturelle Kompetenz derjenigen stärken, die mit diesen Menschen zu tun haben", erklärte Kizilhan zu Beginn.

Dreh- und Angelpunkt ist hier bei die Kommunikation. "Die Sprachbarriere ist ein zentrales Problem im Umgang mit Migranten, zum Beispiel bei der Diagnose von Symptomen."

Wenn ein Patient ihm erkläre, dass seine Leber brenne, dann habe das nichts mit Alkoholkonsum, sondern mit seelischen Problemen zu tun. "Ein Deutscher würde analog dazu von Herzschmerz sprechen."

500 Minderheiten aus 194 Nationen

Dabei ist es nicht allein die Sprache, die die Menschen unterscheidet. Auch der kulturelle Hintergrund spielt eine wesentliche Rolle. In Deutschland gebe es, so Kizilhan, knapp 500 ethnische Minderheiten aus 194 Nationen rund um den Globus. "Es ist wichtig, dass wir auch Reflexionen über unsere eigene Kultur anstellen.

Ein Perspektivwechsel ist wichtig und kann helfen, das Gegenüber zu verstehen", erklärt Jan Ilhan Kizilhan. Das sei im Alltag eines Mediziners, der sieben Minuten Zeit für eine Anamnese hat, schwierig umzusetzen. "Menschen mit Migrationshintergrund wechseln sehr häufig den Arzt, weil sie sich nicht verstanden fühlen."

Jochen Künzel (Mitte), Psychosozialer Leiter der Nachsorgeklinik Tannheim, und Johannes Berger vom BW-Sozialministerium diskutieren mit ...
Jochen Künzel (Mitte), Psychosozialer Leiter der Nachsorgeklinik Tannheim, und Johannes Berger vom BW-Sozialministerium diskutieren mit Andreas Ambrosius vom SÜDKURIER in der Tonhalle über die kulturellen Aspekte in der Behandlung von Patienten. | Bild: Jochen Hahne

"Nur wenn Menschen gesund sind, können sie sich integrieren."

Dabei ist die Gesundheitsversorgung von Migranten, die ohnehin statistisch gesehen häufiger arbeitslos oder in körperlich anstrengenderen Berufen arbeiten und deshalb anfälliger für chronische Krankheiten und Arbeitsunfälle sind, sehr wichtig.

"Nur wenn Menschen gesund sind, können sie sich auch richtig integrieren", sagt Kizilhan. Umgekehrt ändern sich auch die Gegebenheiten bei den Medizinern. Knapp die Hälfte der deutschen Ärzte ist 55 Jahre oder älter.

Deshalb ist es für den Medizinprofessor Kizilhan von zentraler Bedeutung, dass die interkulturelle Kompetenz bereits während dem Medizinstudium in jedem Fachbereich eine Rolle spielt. "Ich sage den Studenten: Lernen Sie Russisch, Türkisch und Arabisch. Das wird Ihnen bei der Kommunikation mit den Patienten helfen, die notwendigen Informationen für eine gute Behandlung zu vermitteln." Außerdem sei es sehr wichtig für die Patienten, verstanden zu werden.

Auch Magie kann helfen – wenn man dran glaubt

Auch die Kultur an sich spielt eine gewichtige Rolle. "Das westliche Verständnis einer medizinischen Behandlung gleicht einer Reparatur des Körpers. Bei Migranten spielen auch familiäre, religiöse oder sogar Magie eine Rolle. Für uns ist das unverständlich. Der Glaube daran kann jedoch auch durch den Placebo-Effekt durchaus wirkungsvoll sein", so Kizilhan.

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Für ihn stellen sich in der Debatte drei offene Fragen. "Wie bekommen wir den Zusammenhang von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit gelöst? Wer zählt überhaupt als Migrant? Und: Wie können wir mehr Beteiligung ermöglichen?" Jan Ilhan Kizilhan fordert zudem mehr Mut, die Menschen in ihrer Diversität und Vielfalt zu betrachten. Denn: "Nicht jeder Mensch ist gleich."