„Wir haben hier zwei Kinder verloren“, sagt Matthias Henschen an einem Julimorgen im Besprechungszimmer der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Schwarzwald-Baar-Klinikums. Zwei kleine Corona-Patienten von bislang insgesamt 40. „Das ist schon richtig viel.“
Matthias Henschen ist Ärztlicher Direktor am Schwarzwald-Baar-Klinikum und Leiter der Kinderklinik. Er ist, auch wenn er das Wort gerne vermeiden würde, weil er weiß, wie es sich anhört, den Tod gewohnt. Den Tod von Kindern. Das heißt nicht, dass es ihn nicht berührt. Er weiß nur besser damit umzugehen. „Die Trauer um ein Kind ist furchtbar. Das zu ertragen ist herzzerreißend, auch für mich.“ Auch die beiden Kinder, die an Corona gestorben sind, wird er so schnell nicht vergessen. „Es hängt mir im Kopf.“
Zwei von 40 Kindern verloren
Zwei von 40. Ein vierjähriger Junge, ohne jegliche Vorerkrankungen. Und ein sechs Monate altes Baby, das mit einem schweren Herzfehler zur Welt gekommen war.
„Ich kenne keine Infektion, wo mehr Kinder gestorben sind“, sagt Henschen. „Covid-19 ist keine harmlose Infektion.“ Auch nicht für Kinder. Das ist das eine. Das Medizinische. Das für Henschen noch Entscheidendere, wenn es darum geht, Kinder gegen das Virus zu impfen, ist etwas anders.
„Extrem Sorgen macht mir die pädagogische Dramatik. Mehr sogar als die medizinische.“Matthias Henschen, Chefarzt der Kinderklinik
Die beiden Kinder, die im Klinikum gestorben sind, sind die sichtbaren Opfer der Pandemie. Die in nüchternen Statistiken am Ende nur noch als Zahl auftauchen.
Die unsichtbaren Opfer der Pandemie sind die, die nach dem Lockdown in die Schule zurückkommen und plötzlich kein Deutsch mehr sprechen, weil zu Hause nur in einer anderen Sprache gesprochen wurde. Die, die in der Klinik landen, weil sie psychische Probleme haben. Die, die im Homeschooling keine Unterstützung bekommen, die keinen eigenen Computer haben, die über Monate von keinem Lehrer mehr gesehen wurden. Die, die in keiner Statistik am Ende auftauchen werden. Die, wie Matthias Henschen es sagt: „abgehängt werden.“ Vielleicht sogar unwiederbringlich.
Kritik an Stiko-Entscheidung
Die Entscheidung der Ständigen Impfkommission (Stiko), keine allgemeine Impfempfehlung auszusprechen, für Kinder ab zwölf Jahren, hält Henschen darum für „verantwortungslos“. Er kann nachvollziehen, warum die Stiko entschieden hat, wie sie entschieden hat. Denn für die Impfkommission sind letztlich nur die medizinischen Aspekte relevant. „Das ist ihre Aufgabe.“
Was er nicht nachvollziehen kann: Dass es niemanden gibt, der auch die gravierenden, nichtmedizinischen Folgen für die Kinder mit voller Wucht in die Waagschale wirft. „Ich kann nicht verstehen, wieso nicht die ganzheitliche Gesundheit im Auge behalten wird.“ Henschen ist nicht nur Arzt. Er ist auch Vater und Ehemann einer Lehrerin. Er weiß, wovon er spricht. Seine Kinder sind alle geimpft.
„Ich bin felsenfest davon überzeugt, wir müssen anfangen, das Impfen für Kinder ab zwölf Jahren möglich zu machen.“Matthias Henschen, Chefarzt der Kinderklinik
Aktuell haben sie keinen Covid-Fall in der Kinderklinik. Den letzten hatten sie vor etwa eineinhalb Wochen. Gekommen war das Kind wegen einer anderen Symptomatik, erzählt Henschen. Kein Einzelfall. Die häufigsten Symptome, die die an Covid-19 erkrankten Kinder bei ihm in der Klinik aufwiesen, waren Durchfall, Schwindel, Schnupfen, Bronchitis und Fieber.
Und dann waren da noch die anderen Fälle: „Wir hatten Kinder, die solche Allgemeinsymptome hatten und haben dann gemerkt, dass sie Antikörper haben.“ Die Kinder konnten sich nicht mehr richtig konzentrieren, wurden schlechter in der Schule, kamen schlechter aus dem Bett, hatten Haarausfall. Long-Covid-Symptome also.
Die Studienlage zu Long-Covid bei Kindern ist aktuell noch dünn, verlässliche Daten gibt es kaum. „Ich glaube, da kommt noch mehr“, sagt Henschen. Wenngleich „längst nicht in der Dramatik, wie es bei Erwachsenen vorkommt.“
Henschen selbst impft nicht gegen Corona. In der Kinderklinik im Klinikum wird nicht geimpft. Das gilt aber für alle Impfungen. Die und Vorsorgeuntersuchungen sind weiterhin Sache der niedergelassenen Kinderärzte. Henschen ist in Kontakt mit den Kinderärzten. Sollte es je einen Engpass geben, hat er bereits angeboten, dass dann die Klinik unterstützen wird.
Die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen
Ortswechsel. Pascal Polaczek ist Kinderarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Schwenningen. Etwa 30 Kinder impfen sie dort pro Woche. Stiko-konform, wie Polazcek sagt. Also Kinder zwischen zwölf und 15 Jahren mit chronischen Vorerkrankungen. In Einzelfällen, wenn die Eltern es unbedingt wollen und nach ausführlicher Beratung, impfen sie ein Kind unter 16 Jahren auch ohne Vorerkrankungen.
Polaczek findet die Empfehlung der Stiko aufgrund der aktuellen Datenlage gut. Kinder erkranken demnach nur leicht und haben mehr Antikörper nach einer überstandenen Infektion als Erwachsene. So die Fakten. Polaczek formuliert es so: „Zum momentanen Zeitpunkt gibt es keine harte Indikation, dass man Kinder impfen muss, um sie vor der Krankheit zu schützen.“ Für ihn sei es darum „schwierig, zu impfen“.
Zwei schwer an Corona erkrankte Kinder haben sie in der ersten Welle in der Praxis behandelt. Ein Jugendlicher und ein Vorschulkind. Beide sind jetzt wieder vollständig genesen. Er hat die Zahl nicht im Kopf, wie viele Corona-Patienten sie hatten. „Viele“, sagt er. Und außer den beiden hatten alle anderen Erkrankten nur leichte Symptome gezeigt.
Der Druck muss von oben kommen
Für Polaczek liegen die Probleme woanders. Nicht bei der Stiko. Bei der Politik und bei den nicht geimpften Erwachsenen. Für ihn das Wichtigste: Kinder müssen wieder in die Schule können. Aber nicht, weil sie selbst geimpft sind. Sondern weil es alle um sie herum sind. „Die Politik müsste ein klares Zeichen setzen, dass Eltern, Erzieher und Lehrer genug Druck bekommen, sich impfen zu lassen“, sagt Polaczek. „Die Verantwortung für die Kinder liegt jetzt bei den Erwachsenen.“
„Die Verantwortung für die Kinder liegt jetzt bei den Erwachsenen. Wenn die sich nicht impfen lassen, gefährden sie, dass die Kinder wieder in die Schule können.“Pascal Polaczek, Kinderarzt
Er hat gesehen, was monatelanges Homeschooling und fehlende soziale Kontakte mit Kindern machen. Nicht nur einmal. Diffuse Angststörungen oder Atemstörungen sind zwei der häufigsten Symptome, die er behandelt hat.
Die größte Sorge der Eltern in Bezug auf die Corona-Impfung sind mögliche Langzeitnebenwirkungen. Da kann Polaczek auch nicht viel weiterhelfen. „Ich kann über die Kurzzeitnebenwirkungen aufklären und darüber, dass der Impfstoff als sicher gilt, aber eine Garantie kann ich keine geben.“
„Das Allerwichtigste ist, dass Kinder wieder in die Schule können.“Pascal Polaczek, Kinderarzt
Wenn sich die Lage jedoch ändern sollte, beispielsweise eine Virusvariante auch für Kinder gefährlicher wird, dann, sagt Polaczek, „ist eine Impfung auch ohne Wissen über Langzeitnebenwirkungen sinnvoll“.