Jörg Schlenker und Carmen Pestka lächeln, als sie sich an den Lesetisch im Stadtarchiv setzen. So viel ist passiert, seit sie sich vor drei Jahren das erste Mal dort hin gesessen haben.
Vor ihnen liegt, wie damals auch, unscheinbar in einer beigen Papiermappe, die Personalakte von Ewald Jauch. Einem Kriegsverbrecher aus Schwenningen, der am Ende des Zweiten Weltkriegs an der Ermordung von 20 Kindern beteiligt war.
Jedes Detail aus der Akte kennen sie
Heute kennen sie jedes Detail in dieser Akte. Erkennen jeden Schrieb. Den Brief, den Ewald Jauch an den damaligen Bürgermeister von der Front in Polen schrieb, ebenso wie die Sterbeurkunde, die Parteimitgliedschaft und die Einberufung.
Sie haben an der Grabstätte von Ewald Jauch in Hameln gestanden, haben das Seil gesehen, mit dem man ihn als Kriegsverbrecher gehängt hat.
Sie waren an der Gedenkstätte in Hamburg für die 20 ermordeten Kinder. Zwischen fünf und zwölf Jahre waren sie alt. Zu leicht, als dass ihr eigenes Gewicht zum Erhängen ausgereicht hätte. Ihre Mörder mussten die Kinderkörper nach unten ziehen.

Ein Jahr haben sie die Geschichte von Ewald Jauch recherchiert. Am Ende entstand daraus eine Ausstellung. ‚Ewald Jauch und die Kinder vom Bullenhuser Damm‘, zu sehen im vergangenen Jahr in der Stadtbibliothek in Schwenningen.
Vor ein paar Wochen wurden sie dafür ausgezeichnet von der Bundeszentrale für politische Bildung. Ab Herbst wird die Ausstellung im KZ Neuengamme in Hamburg zu sehen sein.
Vom Grafiker zum Historiker
Eigentlich war das alles ein Zufall. Schlenker und Pestka kannten sich nur flüchtig. Bis beide vor etwa drei Jahren zur gleichen Zeit über den Namen Ewald Jauch im Zusammenhang mit der Ermordung von 20 Kindern stoßen.
„Ein Gastwirt aus Schwenningen“, sagt Schlenker, „der als Kriegsverbrecher hingerichtet wurde. Wie kann es sein, dass man da wegschaut?“ Sie beschließen hinzuschauen.
Am Anfang wollen sie auch eigentlich nur herausfinden, um welches Gasthaus es sich gehandelt hat. Sie vereinbaren einen Termin im Stadtarchiv. Als sie dort ankommen, steht Amtsleiterin Ute Schulze mit zwei Kartons vor ihnen. „Endlich schaut sich das jemand an“, sagt sie. „Jackpot“, denken Schlenker und Pestka.
Ewald Jauch war städtischer Mitarbeiter. Seine Akten durften per Alliierten-Beschluss nicht vernichtet werden.
„Wir waren ja vorher noch nie in einem Archiv“, sagt Schlenker. Er ist selbstständiger Grafikdesigner. Carmen Pestka arbeitet im Management bei Siemens.
Sie trauen sich kaum zu fragen, ob sie die Dokumente verwenden dürfen. Aber natürlich, habe Schulze zu ihnen gesagt. Dafür sei ein Archiv ja schließlich da.
Am Anfang, sagt Schlenker, war alles dubios. Dann war es wie ein Puzzle. Irgendwann haben sie alle Teile. Und sie merken: „Okay, die Sache wird etwas größer.“
Manchmal tat es weh. Als sie bei einer Gedenkfeier für die ermordeten Kinder dabei waren, zum Beispiel. „Wir standen beide da und haben mitgeweint.“
Drei Wochen ging die Ausstellung. Schlenker und Pestka sind jeden Tag vor Ort. Und bemerken etwas Erstaunliches: In der ersten Woche sagen die Besucher, von der Geschichte haben sie noch nie gehört. In der zweiten Woche wissen viele doch beispielsweise von Haftlagern damals in Schwenningen. Und in der dritten Woche sagen viele Besucher plötzlich: „Das wusste doch jeder, dass der Jauch ein Kriegsverbrecher war.“
Insgesamt 1500 Besucher sehen die Ausstellung. Einzig enttäuscht waren Schlenker und Pestka von den Schulen. Im Vorfeld der Ausstellung haben sie alle Schulen und Geschichtslehrer der Doppelstadt angeschrieben. Kaum einer antwortet. Nicht einmal eine Handvoll sieht sich am Ende die Ausstellung an. Einige Schüler organisieren gar selbst einen Besuch.
Am Ende geht es um jeden Einzelnen
Am Ende lernen nicht nur die Besucher etwas. Es gibt einen Moment, in dem merkt Jörg Schlenker, es geht um mehr als nur die Geschichte eines Kriegsverbrechers aus Schwenningen. Eines Nachbarn, der zum Täter wurde. Eines Gastwirts, der zum Mörder wurde. Eines Vaters, der 20 Kinder erhängte.
Es ist der Moment, als ein Bekannter ihm von einem Gespräch mit seiner Mutter erzählt. Die beiden hatten gemeinsam die Ausstellung besucht. Auf dem Heimweg sagt die Mutter plötzlich, wie schlimm es doch damals in Dachau gewesen sei. Drei Wochen sei sie damals dort gewesen. Als Flüchtlingskind aus Schlesien. Es ist das erste Mal, dass der Sohn davon hört.
Für Jörg Schlenker ist das noch heute einer der bewegendsten Momente. Und der Moment, in dem er realisiert, worin der wahre Wert ihrer Ausstellung liegt. Es ging nie nur um Ewald Jauch. Es geht um den Kampf gegen das Vergessen. Und gegen das Vergessen wollen.
Im Großen. Aber auch im Kleinen. „Was war damals eigentlich mit meinen Eltern, meinen Großeltern?“ Er hat es selbst nie hinterfragt. Die Geschichten aus der Kriegsgefangenschaft des Großvaters zum Beispiel. Jetzt kann er ihn nicht mehr fragen.