Die Toilette? Steht jetzt in der Küche. Die Dusche? Voilà, direkt daneben. Und was ist mit den Türen? Bestehen nur noch aus dünnem Stoff mit Reißverschlüssen.
So oder ähnlich leben derzeit zahlreiche Mieter im Villinger Hochhaus am Berliner Platz. Sämtliche Leitungen werden hier momentan ausgetauscht – das 63 Jahre alte, voll belegte Gebäude ist seit März Großbaustelle.
88 Wohnungen hat das Hochhaus, das in Villingen wohl ein jeder kennt. Sie alle sind komplett belegt, einen Leerstand gab es in dem 15-Stockwerke-Gebäude noch nie, wie Sebastian Merkle, Geschäftsführer der Eigentümerin Baugenossenschaft Familienheim erzählt.
Das Gebäude sei „extrem beliebt“ – was wohl auch der Grund ist, warum alle Mieter nun die wochen- und teils gar monatelangen Beeinträchtigungen mitmachen.

Dass er und sein Unternehmen den Menschen am Berliner Platz 1 und 2, so die offizielle Adresse, sehr viel abverlangen, weiß Sebastian Merkle. „Wir sind den Mietern extrem dankbar, dass sie da mitmachen“, betont er.
Doch die Baumaßnahmen seien alternativlos, „nach über 60 Jahren waren wir an dem Punkt, dass das Haus in Sachen Leitungen am Ende seiner Lebenszeit angekommen war“, so der Familienheim-Chef.
Immer mehr Leitungen machen Probleme
Immer öfter gab es Probleme, Rohrbrüche und ähnliche Schwierigkeiten. Nun also werden sämtliche Leitungen – Schmutzwasser, Frischwasser, Lüftung – ausgetauscht, zusätzlich kommt Glasfaser in jede Wohnung.
Hunderte Meter Leitungen insgesamt, stolze fünf Millionen Euro kosten die Arbeiten. Alle Bäder werden in den geplanten 18 Monaten Bauzeit neu gemacht, die Küchen bis auf die Möbel ebenfalls.
„Technisch wird das Gebäude dann wieder auf dem aktuellen Stand sein“, so Sebastian Merkle.
Was dies im täglichen Leben bedeutet, zeigt sich, als Ursula Burger im dritten Stock von Haus 1 ihre Wohnungstür öffnet. Seit 56 Jahren lebt sie hier.
Wer einen Schritt hineintut, steht mittendrin in einer Baustelle: Der Boden im Flur ist abgeklebt, die Garderobe mit Folie verhüllt. Hinter einer grauen Plane versteckt sich der Garderobenschrank.
Schutz vor dem Staub und Dreck, der seit 2. Mai ein ständiger Begleiter im Zuhause von Ursula Burger ist. „Abstauben lohnt sich gar nicht mehr“, sagt sie.
Eigentlich hätte sie für die Bauzeit auch zu ihrem Sohn ziehen können, erzählt die Villingerin. Eine Flucht vor dem Baulärm und der Unordnung, den aufgestapelten Kisten und den vollgestopfen Zimmern?
Nerven wie Eisenbahnschienen
„Aber ich wollte meine Wohnung nicht allein lassen“, erklärt sie. Dafür braucht sie seit Mai vor allem eins: „Da muss man Nerven wie Eisenbahnschienen haben“, sagt Ursula Burger.

Die ersten Bauarbeiter kommen oft schon morgens vor halb acht. Sie sind fleißig. Im Bad wurde alles herausgehauen. Das Bad, das Ursula Burger und ihr mittlerweile verstorbener Mann einst auf eigene Kosten renoviert und schön gemacht haben.
Zeitweise, so erzählt sie, trennte sie nur noch ein dünner Stoffvorhang von der Nachbarwohnung. Weil dort Leitungen verliefen, musste ein Stück Wand komplett raus.
Duschen muss sie seit Wochen in der mobilen Dusche, die in ihrer Küche steht. Direkt daneben die Campingtoilette mit kleinem Waschbecken, das die Villingerin momentan auch zum Abspülen nutzt. Kein Vergnügen. „Da passt nicht mal ein großer Teller rein“, sagt sie.
Gekocht wird dafür derzeit im Wohnzimmer, dort stehen nun eine kleine Elektro-Kochplatte mit zwei Kochfeldern, eine Mikrowelle und ein Wasserkocher auf einem niedrigen Tischchen am Fenster.
„Kochen geht fast nicht, hier im Wohnzimmer kann ich doch nichts anbraten“, sagt die alte Dame.
Alle raus – oder doch nicht?
Als feststand, dass saniert werden muss, habe Familienheim mehrere Möglichkeiten gehabt, erzählt Sebastian Merkle.
Möglichkeit eins: Das Haus komplett leeren. „Das war nicht machbar, wir hätten gar keine 88 Ersatzwohnungen zur Verfügung gehabt“, stellt er klar.
Möglichkeit zwei: In kleinen Etappen sanieren, immer dann, wenn gerade eine Wohnung frei wird. Ebenfalls schwierig – unter anderem, weil die Leitungen eben nicht nur in den Wohnungen selbst, sondern auch in den Zwischenböden verlaufen.
Blieb also nur Variante 3, die Sanierung bei voller Belegung.

Die Baugenossenschaft legt Wert darauf, es ihren Mietern in der aktuellen Situation so erträglich wie möglich zu machen. Sammel-Duschen und -Toiletten für alle vor dem Hochhaus, wie sie in solchen Fällen oft verwendet werden, seien daher keine Option gewesen, so Sebastian Merkle.
Die mobilen Einrichtungen in jeder Wohnung sorgen zwar für „erhebliche Mehrkosten“, garantieren den Menschen im Haus jedoch ein Stückchen mehr an Privatsphäre. Regelmäßig werde außerdem in betroffenen Appartements durchgeputzt.
Mietfrei auf der Baustelle
Für die Zeit, in der ihre Wohnung zur Baustelle wird, zahlen die Mieter im Hochhaus keine Miete, betont Geschäftsführer Merkle. Während der gesamten Bauzeit gebe es zudem für alle eine „erhebliche Mietreduktion“.
Obendrein werde die Baugenossenschaft nach Abschluss der Arbeiten auf eine rechtlich mögliche Mieterhöhung aufgrund der Modernisierung verzichten.
Ursula Burger kann den Tag wie sicherlich alle anderen betroffenen Mieter kaum erwarten, an dem ihre Wohnung wieder zu einem wohnlichen Zuhause wird. Dass die Arbeiten in dem über sechs Jahrzehnte alten Gebäude jedoch nötig waren, sieht auch sie ein.
„Die Bauarbeiter müssen halt arbeiten, das geht nicht anders“, weiß sie. Auch die Hauseigentümer hätten ihr Möglichstes getan, betont sie.

Mitte August, so die derzeitigen Planungen, werden Ursula Burger und die anderen Mieter am gleichen Leitungsstrang ihre Umzugskisten endlich wieder auspacken können. Dann geht es an anderer Stelle im Hochhaus weiter. „Ich bin dann erst mal urlaubsreif“, sagt die Villingerin und lacht.