Matthew Corwin aus den USA, den alle nur Matt nennen, ist ein gestandenes Mannsbild, wie man im Süden von Germany sagt: groß, kräftige Arme, dunkler Vollbart. Mit seiner Statur würde er perfekt in die Abwehrformation jeder Football-Mannschaft passen.
Corwin muss das Mineralwasser schleppen lassen
Stattdessen muss er sich böse Blicke auf dem Supermarktparkplatz gefallen lassen, weil er seine Frau Cathrin das Mineralwasser schleppen lässt. Lassen muss. Er ist schlicht zu krank, um die sechs Plastikflaschen zum Auto zu tragen.

ADPKD, Autosomal-dominante polyzystische Nierenerkrankung, oder einfacher Zysten-Nieren, heißt die Krankheit, die bei Corwin vor etwa zehn Jahren diagnostiziert wird, als er gerade der Liebe wegen nach Deutschland gezogen ist.
Bei dieser Erbkrankheit bilden sich – vereinfacht gesagt – Zysten an den Nieren, die sich immer mehr vergrößern. Eine normale Niere wiegt etwa 150 Gramm, Corwins wiegen im Mai 2023 jeweils an die sechs Kilogramm und sind so groß wie ein Football, wie er grinsend sagt.
American Football statt Fußball
Der Football, er hilft Matt Corwin immer wieder durch schwere Zeiten. Als er 2012 aus Michigan nach Baden-Württemberg auswandert, von der kanadischen an die Schweizer Grenze, leidet Corwin unter Heimweh. Er hat noch keinen großen Freundeskreis und studiert in Schwenningen.
Eines Tages fällt ihm ein Plakat auf, das für ein Spiel der Neckar Hammers wirbt und Heimatgefühle in ihm weckt. American Football statt Fußball, der in den USA Soccer heißt. „Der Sport war eine gute Verbindung zu meinen amerikanischen Wurzeln hier in Deutschland“, sagt Corwin, der aus einer Sportlerfamilie kommt und sich schon als Jugendlicher für Strategien und Taktiken interessiert.
„Auch wenn wir damals noch nichts von meiner Krankheit wussten, habe ich insgeheim gespürt, dass irgendetwas nicht mit mir stimmt“, erinnert Corwin sich an seine Jugend.
„Ich hatte immer irgendwelche Probleme, wenn ich Sport gemacht habe, und wurde mein Übergewicht nicht los. Vielleicht wollte mir mein Körper schon damals etwas sagen.“ Dem American Football nähert er sich, indem er sich permanent in Seminaren weiterbildet.
Corwin schwärmt von der Zeit in Schwenningen
Dieses Wissen scheint auch den Coaches der Neckar Hammers zu imponieren, die den US-Neuling bald in ihr Trainerteam aufnehmen. „Im ersten Jahr haben wir die Meisterschaft in der Landesliga gewonnen, da war ich Offensive-Koordinator und Running-Back-Coach“, erzählt Corwin, der noch immer von der Zeit in Schwenningen schwärmt. Bis in die Oberliga führt der gemeinsame Weg mit dem kleinen Kader, ehe die Aufgaben zu groß werden und der Erfolg ausbleibt.
In der Zwischenzeit bricht Matthew Corwins Krankheit aus. Als die Ärzte ADPKD diagnostizieren, wird der starke, junge Mann umgehauen, wie ein schlecht geschützter Quarterback beim Blitz-Spielzug. Fast zeitgleich stellen auch die Zysten-Nieren seines Zwillingsbruders Brian dessen Leben in den USA auf den Kopf.
Ihre Organe werden immer größer – und schwächer. Matt Corwin hat ständig Kopfschmerzen und ist erschöpft wegen der zu hohen Entzündungswerte, gegen die sein Körper Tag für Tag ankämpfen muss. „Für den Sport habe ich alle Energie zusammengenommen“, sagt der 35-Jährige.
Nach der Trennung von den Hammers wechselt der US-Amerikaner zu den Newtown Lions nach Neuhausen ob Eck, deren Spielertrainer Dirk Bautz er auf einem Seminar kennenlernt und den er in diesem September als Cheftrainer ablöst. „Dirk ist jetzt der Manager“, sagt Corwin. Bei dem 2017 gegründeten Team fühlt er sich wohl, trotz des sportlichen Rückschritts von der Ober- in die Aufbauliga, nach ganz unten.
„Es wurde immer schlimmer“
Die Geschwindigkeit in seinem Leben bestimmt längst die Krankheit und nicht mehr der Spielplan. „Es wurde immer schlimmer“, sagt Corwin, „ich hatte Vergiftungserscheinungen, musste mich alle ein bis zwei Stunden übergeben. Meine Nieren hatten nur noch 10 bis 15 Prozent Leistung.“ Beim Schneeschippen und bei einem Zusammenprall im Training platzen Zysten und er hat wochenlang innere Blutungen. „Im Sommer 2022 habe ich dann gemerkt, dass ich nicht mehr genügend Kraft habe.“
Sein Bruder Brian ist schon seit einiger Zeit an der Dialyse, als auch Matt sich im Februar 2023 dazu entscheidet, sein Blut im Krankenhaus von einer Maschine reinigen zu lassen. Eine Tortur. Drei Tage in der Woche muss er für vier Stunden in die Klinik, die restliche Zeit ruht er sich aus.
„Das entzieht dir alle Energie“, sagt Corwin, dessen Immunsystem quasi nicht mehr existiert. „Ich war ständig erkältet, habe mich an allem angesteckt, was meine vierjährige Tochter Kayla aus dem Kindergarten mitgebracht hat, und hatte dreimal Corona in den letzten beiden Jahren.“
Andreas Klatt wird zum Spender
Im Gegensatz zu vielen Leidensgenossen, die bis zu zehn Jahre auf ein Spenderorgan und ein Ende der Leidenszeit warten müssen, weiß Matt Corwin da aber schon, dass für ihn schnelle Besserung in Sicht ist. Sein Schwiegervater Andreas Klatt kommt als Spender infrage. „Es war eine Fügung“, sagt der 65-Jährige, „eine Fügung, dass alles gepasst hat: Blutgruppe, Gewebemerkmale und mein Gesundheitszustand.“
Vor dem Eingriff pilgert der Wahlwieser auf dem Jakobsweg. Etwa 1000 Kilometer wandert er in 40 Tagen und bereitet sich dabei körperlich und geistig auf den Eingriff vor. Zweifel an seiner Entscheidung hat er nie.
„Ich habe ja nicht ihm allein die Niere gespendet, sondern der ganzen Familie. Ich habe gesehen, wie schlecht es allen ging und wie es um seine Lebensqualität bestellt war“, sagt Klatt, der sich schon wenige Tage nach der Operation wieder topfit fühlt. „Ich habe überhaupt keine Einschränkungen“, sagt er.
Das kann sein Schwiegersohn noch lange nicht von sich behaupten. Immer wieder gibt es Probleme, Rückschläge. Etwa 20 Tabletten schluckt der 35-Jährige täglich. „Fast jeden Tag muss ich mich für eine Stunde hinlegen, um Kraft zu tanken und ich darf nichts Schweres heben“, sagt er. Im Februar soll unter Vollnarkose auch die zweite kranke Niere entnommen werden.
Die Lichtblicke überwiegen
Trotz aller Risiken und Nebenwirkungen sind es die Lichtblicke, die überwiegen. „Einen Monat nach meiner Transplantation hat auch mein Bruder Brian eine neue Niere bekommen. An unserem 35. Geburtstag bekam er einen Anruf, dass bei einem Autounfall ein Spender ums Leben gekommen sei“, sagt Matt Corwin.
Der Wahl-Wahlwieser schaut auf ein turbulentes Jahr 2023 zurück. Auf einen Start mit großen Leiden, auf eine schwere Operation. Im Blick hat er dieser Tage aber nur eins: das fröhliche Weihnachtsfest im Kreise seiner Liebsten. „An Heiligabend feiern wir mit meinen Schwiegereltern, am ersten Weihnachtsfeiertag sind wir 13 Leute“, sagt der 35-Jährige.
Und in Gedanken ist er auch bei seinen Freunden von den Newtown Lions. „Nach der Winterpause“, sagt Matt Corwin grinsend, „ist an den Wochenenden das Football-Team wieder meine Familie.“
Da gehört ein gestandenes Mannsbild aus den USA einfach auch hin.