Radsport: – Wer Lottstetten auf der Deutschlandkarte sucht, muss gute Augen haben und zumindest ungefähr wissen, wo das Dorf mit seinen knapp 2100 Einwohnern verortet ist. Weniger Schwierigkeiten, die Gemeinde zu finden, haben nationale und internationale Experten aus dem Kunstradfahren. In dieser Randsportart setzt der heimische Radfahrverein, der sich schon vor weit über 100 Jahren ei der Gründung mit großer Weitsicht „Frohe Radler“ nannte, Akzente – und das seit Jahrzehnten.
Waren es Mitte der 90er-Jahre zunächst Kerstin Seifert und Susanne Stark, die unter ihrem unvergessenen Trainer Harald Schiffler, weltweit für Aufsehen sorgten, als sie zunächst 1995 in Epinal (Frankreich) die Vize-Weltmeisterschaft gewannen und ein Jahr später dann im fernen Malaysia endgültig triumphierten, sind es nun die Töchter der beiden Weltmeisterinnen – heute heißen sie Kerstin von Schneyder und Susanne Daudey – von damals, die mittlerweile mit ihren Zweier-Partnerinnen erneut für Furore sorgen.
Die Klasse von Anna-Sophia von Schneyder und Anika Papok ist längstens bekannt. Die Schülerinnen fuhren in der Klasse der U19-Juniorinnen zwei Mal zu höchsten europäischen Ehren. Vor zwei Jahren siegten sie in Geispolsheim/Frankreich und im August 2021 wiederholten sie den Triumph in Altdorf/Schweiz. Bei den letzten vier Deutschen Meisterschaften konnte dem Duo aus Lottstetten die nationale Konkurrenz das Wasser nicht reichen.

Mit reichlich Vorschusslorbeeren starteten Anna-Sophia von Schneyder und Anika Papok mit Beginn des Jahres in eine neue Phase ihrer sportlichen Karriere. Künftig fahren sie in der Elite, bekommen es im Kampf um Medaillen und Punkte mit neuer Qualität zu tun. Entsprechend verhalten gaben sich die Sportlerinnen und ihre Trainerin Kerstin von Schneyder bei den Aussichten auf das erste Jahr bei den Frauen. Priorität soll die Schule haben, zumal Anika Papok vor den Abitur-Prüfungen steht.
Doch mit halber Kraft wird es auch nicht gehen, denn „hinten anstellen“ ist auch nicht angesagt. Bundestrainer Dieter Maute weiß, was in Lottstetten möglich ist. Er hat Anna-Sophia von Schneyder und Anika Papok umgehend in den Nationalkader berufen. „Es gibt natürlich noch Paare mit mehr Erfahrungen“, mahnt Kerstin von Schneyder, zeigte sich aber beeindruckt, dass ihre Mädels im Bezirkspokal gleich mal 122,15 Punkte herausgefahren haben.

Das Programm ist nicht komplett. Gefahren wird nur, was sitzt. Der Reitsitzsteiger im Schulterstand jedenfalls passte auf dem schwierig zu fahrenden Boden der Gemeindehalle. Von Heimvorteil konnte nämlich für das Duo keine Rede sein, denn trainiert wird auf dem Parkett in der Volkshalle. „Es lief super für uns“, freuten sich die beiden Fahrerinnen, wohl wissend, dass die Herausforderungen künftig höher sind.
Als Ersatz-Team beim Welt-Cup
Neben Deutschen Meisterschaften warten auch Entscheidungen auf europäischer Ebene und Weltmeisterschaften. International wollen sie sich herantasten und reinschnuppern. Vielleicht gar im Weltcup, denn der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) nominierte Anna-Sophia von Schneyder und Anika Papok als Ersatz: „Drei Paare sind vor uns. Fällt aber beispielsweise wegen Corona ein Team aus, wären wir tatsächlich dabei“, weiß Kerstin von Schneyder.
Mit dabei auf nationaler Ebene ist mittlerweile auch das zweite Lottstetter Zweier-Paar, das stets im Schatten der Nachwuchs-Asse seine Runden gedreht hat. Letizia, die 14-jährige Tochter von Susanne Daudey, wurde gemeinsam mit ihrer Partnerin Sofia Baier in diesem Jahr erstmals vom Bund Deutscher Radfahrer mit einem Platz im C-Nationalkader für die bisherigen Leistungen belohnt. Spätestens mit dem fünften Rang bei ihren ersten Deutschen Meisterschaften in ihrer neuen Altersklasse 2021, und ihrem bärenstarken Auftritt beim Junior-Masters, setzten die U19-Juniorinnen zwei Marken, die in Frankfurt angekommen sind. Der neue Nachwuchs-Bundestrainer Marcel Jüngling nimmt die beiden Teenager unter seine Fittiche – mit regelmäßigem Training in Frankfurt und Saarbrücken.

Bei den Bezirksmeisterschaften in der Lottstetter Halle stellten Letizia Daudey und Sofia Baier zum Jahresauftakt 114,0 Punkte auf, fuhren 97,16 Punkte heraus. Eine Ausbeute, die für den ersten Wettkampf im neuen Jahr ganz ordentlich sei, betonten sie: „Wir hatten ein paar unnötige Stürze“, so Letizia Daudey und Sofia Baier, die im späten Frühjahr an der Realschule Jestetten ihre Mittlere Reife ablegen will, ergänzt: „Wir haben schon noch etwas Luft nach oben. Aber unsere DM-Platzierung wollen wir 2022 möglichst wiederholen.“
Teamkolleginnen als Vorbild
Im Fahrwasser von Anna-Sophia von Schneyder und Anika Papok fühlen sich die beiden Fahrerinnen ganz wohl, auch die Tatsache, dass ihre Mutter und Trainerin Susanne Daudey, bereitet Letizia keine schlaflosen Nächte: „Das ist eher Ansporn als Bürde für uns“, gibt die Schülerin, die in drei Jahre am Hochrheingymnasium Waldshut ihr Abi bauen möchte, offen zu: „Wir sehen Anna-Sophia und Anika ebenso als Vorbild, wie Susanne und Kerstin. Wäre doch super, wenn wir auch so erfolgreich werden können.“

Von „Zickenkrieg“ ist bei den „frohen Radler(innen)“ in Lottstetten also nichts zu spüren. „Die Mädchen lassen sich nicht drängen, sondern legen einen enormen Willen an den Tag“, freut sich Susanne Daudey über die Erfolge ihrer Schützlinge: „Sie haben in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht – was auch ihrem eigenen Engagement zu verdanken ist.“
Schließlich bleibe es für Sofia und Letizia nicht bei den drei zweistündigen Trainingseinheiten pro Woche in der Volkshalle: „Sie nehmen ihre Hausaufgaben – Kraftübungen in erster Linie – wirklich ernst“, freut sich die Ex-Weltmeisterinnen beispielsweise darüber, dass Sofia Baier den Handstand mittlerweile fast perfekt beherrscht: „Das muss sie zu Hause üben, im Training geht das nicht.“ Was am Ende herauskommt, vermag Susanne Daudey natürlich nicht zu sagen, doch als erfahrene Trainerin weiß sie, dass auch das zweite Lottstetter Kunstrad-Duo gut im Sattel sitzt und einen viel versprechenden Weg eingeschlagen hat.