Radsport: – Melancholisches Klavierspiel ertönt hinter der knorrigen Holztür, deren grüne Farbe die besten Zeiten längst hinter sich hat. Eine fast klagende Stimme singt, unter anderem von „hartgesottenen Königinnen des Missgeschicks“. Es ist die Stimme von Birdy, zu deren Welt-Hit „People help People“ zwei junge Sportlerinnen auf einem Fahrrad große Kreise fahren. Die historische Volkshalle in Lottstetten ist erfüllt von Musik und hochkonzentrierter, akribischer Trainingsarbeit.

Die übenden Sportlerinnen sind Anika Papok und Anna-Sophia von Schneyder. Zwei junge Frauen, die seit Jahren beim deutschen und europäischen Nachwuchs den Ton im Zweier-Kunstradfahren angeben. Das Duo des RV „Frohe Radler“ Lottstetten gewann kürzlich zum vierten Mal in Folge den Deutschen Meistertitel – zwei Mal siegten sie als Schülerinnen und nun zum zweiten Mal bei den Juniorinnen.
Mit dieser Titelsammlung im Rücken stellen sich die Ausnahmesportlerinnen nun dem Höhepunkt ihrer noch jungen Karriere. In Altdorf am Vierwaldstättersee starten Anika Papok und Anna-Sophia von Schneyder am Samstag bei den Junioren-Europameisterschaften im Hallenradsport. Und sie wollen mit dem Titelgewinn Abschied nehmen von ihrer Zeit als Nachwuchssportlerinnen. In der neuen Saison messen sie sich altersbedingt mit der Elite in ihrer Sportart.

Europameisterinnen sind Anika Papok und Anna-Sophia von Schneyder seit zwei Jahren. In Geispolsheim/Elsass holten sie im Juni 2019 – seinerzeit nach einem Nerven-Krimi gegen die Titelverteidigerinnen aus Österreich – mit 121,16 Punkten erstmals den Titel.

Rosa Kopf und Svenja Bachmann hatten kurz vor dem Wettbewerb ihre Eingabe auf 128,00 Punkte reduziert. So mussten sie nicht als Letzte fahren, erhöhten den Druck auf die Konkurrenz. Dank Birdy im Ohr erwiesen sich die Lottstetterinnen in diesem Pokerspiel aber als „hartgesotten“, fuhren knappe 2,23 Punkte mehr heraus und durften sich somit das blaue Sternentrikot überstreifen.

Mit Verspätung – der Wettbewerb in Altdorf war ursprünglich für Mai vorgesehen – geht es nun erneut um die europäische Krone. Und Birdy zum Trotz, wollen Anika Papok und Anna-Sophia von Schneyder in Altdorf eben nicht als „Queens of misadventure“ über das Parkett rollen. Seit Wochen und Monaten arbeiten sie auf diesen letzten großen Termin hin, feilten mit Kerstin von Schneyder immer wieder am Programm. Dabei könnten sie es mit Blick auf die Startliste locker angehen lassen. Die Konkurrenz ist gegenüber 2019 übersichtlich aufgestellt.

Einzig Paare aus Ungarn, der Schweiz und Tschechien stehen mit Anika Papok und Anna-Sophia von Schneyder im fast schon ungleichen Wettbewerb. Während das Duo aus Lottstetten stolze 125,80 Punkte eingegeben hat, stellen Alena Florová/Michaela Vosicková, die tschechischen Meisterinnen aus Nemcice und Vierte von 2019, lediglich 84,40 Punkte auf. Luana Lutz und Delia Uebelhart aus Amriswil/CH trauen sind gerade einmal 66,60 Punkte zu.

Ein Selbstläufer also? „Keinesfalls! Im Kunstradsport kann immer etwas passieren“, warnt Kerstin von Schneyder vor zu viel Lockerheit: „Wichtig ist, die Konzentration hoch zu halten. Die Tagesform muss stimmen. Ich wünsche mir für sie, dass sie ihr Programm gut fahren und zufrieden vom Rad steigen.“
Damit das große Ziel erreicht wird und kein Schlendrian einzieht, wurde das Trainingspensum nicht reduziert. Vier Mal pro Woche erklang die Musik, die das Duo seit Jahren bei Wettkämpfen begleitet, in der altehrwürdigen Volkshalle: „Zwei bis zweieinhalb Stunden wurde konzentriert gearbeitet“, gibt die erfahrene Trainerin und Mutter einen kleinen Einblick in den Aufwand, den die Schülerinnen für ihren Sport seit Jahren betreiben.

Dazu kommen jeweils ein halbes Dutzend intensive Trainings-Wochenenden sowohl mit dem Landeskader in Tailfingen, als auch mit dem Bundeskader in Frankfurt. Viel Freizeit bleibt den Teenagern da nicht, denn so ganz nebenbei gehen sie ja noch zur Schule – mit jeweils aufwändiger Anfahrt zum Unterricht. Die 18-jährige Anika Papok steht im Frühjahr 2022 vor den Abiturprüfungen am Ernährungswissenschaftlichen Gymnasium in Waldshut; Anna-Sophia von Schneyder (17) besucht das Sozial- und Gesundheitswissenschaftliche Gymnasium in Radolfzell, wird 2023 ihr Abitur ablegen.

Diesen Spagat beherrschen die Schülerinnen also nicht nur beim Kunstradsport. Als Bindeglied eignet sich niemand besser als Kerstin von Schneyder. Die Trainerin hat all das vor einem Vierteljahrhundert, damals noch als Kerstin Stark, mit ihrer Zweier-Partnerin Susanne Seifert ebenfalls durchexerziert. Angeleitet vom legendären Lottstetter Trainer Harald Schiffler gewannen Seifert/Stark im Jahr 1996 den Weltmeister-Titel in Malaysia – bessere Vorbilder dürfte es für Anika Papok und Anna-Sophia von Schneyder kaum geben.
Ihre geballte Erfahrung geben die beiden Weltmeisterinnen von damals heute im Verein nicht nur ihren eigenen Kindern, sondern der gesamten Nachwuchsriege weiter. Mit welchem Erfolg, lässt sich nicht nur an der Titelsammlung des Europameisterinnen ablesen. Letizia, die Tochter von Susanne Seifert (mittlerweile heißt sie Daudey), mischt mit Sofia Baier ebenfalls in der deutschen Zweier-Spitze mit. Das Duo fuhr bei den „Deutschen“ in Amorbach mit Bestleistung auf Platz fünf.